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Erich Mühsam "Das Lebensprogramm" ( 3) (Off Topic)

Ruth @, Donnerstag, 24.09.2020, 17:50 (vor 1308 Tagen) @ Ruth

Der 27.Oktober war da. Um 4 Uhr 55 Minuten kehrte Samuel vom Postamt heim, wo er für die letzten 20 Pfennig seiner 237 Mark 60 eine Briefmarke gekauft und auf das seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr versandfertige Schreiben geklebt hatte, das sein Ableben dem Standesamt kundtat.


Rüstig erhobenen Hauptes begab er sich in sein Zimmer und legte sich auf die Chaiselongue. Um 5 Uhr 16, ganz nach Vorschrift, schlief er ein, und seine kräftig schnarchenden Atemzüge kündeten der im Nebenraum harrenden Frau Ehrenmann, daß die Stunde gekommen sei, da ihr Gatte ins Jenseits hinüberschlummerte. Sie sah nach dem Regulator. Punkt 5 Uhr 43, eine Minute nach dem planmäßigen Abgang mit Tode, erhob sie sich zu dem hoffnungslosen Versuch, den Schläfer zu wecken.

Langgezogene sängende Töne schwollen ihr schon an der Tür entgegen, und tränenden Auges, tief gebeugt blieb Frau Ehrenmann vor dem Schlummernden stehen, ihr Los beklagend, sich im nächsten Augenblick als seine Witwe erkennen zu müssen.

„Samuelchen“, hauchte sie bewegt, und als er keine Antwort gab, sondern, den Atem laut durch die Nase ziehend, sich auf die andere Seite warf, da schrie sie vor Schmerz überwältigt auf: „Samuel! Mein Geliebter! Du bist tot ! Oh, ich Ärmste! Ich unglückselige Witwe !“


Jammernd und schluchzend war sie sich über ihn, von dem teuren Toten auf ewig Abschied zu nehmen. Da schlug Samuel die Augen auf.


Entsetzt starrte die Gattin ihn an. „Samuel!“ kreischte sie. „Aber Samuel ! Bist du denn noch nicht tot?! Und dein Programm - ?! Samuel !!“


Ratlos blickte der Erwachte in die verweinten Augen seiner Frau. Da betrat auch schon verstört und bleich, wie es befohlen war, und bereits schwarz gekleidet, die ganze Familie das Sterbezimmer.


„Denkt euch nur“, klagte Samuel, „ich bin gar nicht gestorben !“
„Nicht ?“ fragten Kinder und Enkel schauernd. „Und das Programm?
„Nein, nein – trotzdem! “ Ungläubig umstanden die Hinterbliebenen das Sterbelager.


Da erhob sich Samuel Ehrenmann von der Chaiselongue, hob gewaltig die Arme in die Höhe und rief: „Gebt mir mein Geld zurück, ihr Erbschleicher !“

Da Samuels Programm eine Programmwidrigkeit nicht vorgesehen hatte, war die friedliche Eintracht, die so lange über der Familie Ehrenmann gewaltet hatte, vernichtet. Frau Ehrenmann und Samuels zweiundzwanzig Hinterbliebene warfen den Alten aus dem Hause, das ihm nicht mehr gehörte. Mit Hilfe eines Rechtsanwalts und der Besatzung der nächstgelegenen Polizeiwache warf alsdann Samuel Ehrenmann seine Erben aus dem Hause, das ihnen noch nicht gehörte.

Am 8. Januar, ihrem programmgemäßen Todestage, schloß sich Frau Ehrenmann der Prozeßpartei ihres Gatten an. Der Staatsanwalt seinerseits schritt gegen Samuel ein wegen einer Falschmeldung beim Standesamt. Die gesamte Erbmasse verschwand allmählich in den Kassenschränken der prozessierenden Advokaten, die heute noch um den Ertrag des inzwischen subhastierten Ehrenmannschen Hauses untereinander prozessierten. Der Umfang der in Sachen Ehrenmann contra Ehrenmanns Erben angehäuften Akten übersteigt längst den des Schweinslederbandes, dessen Versagen in einem einzigen Punkte all die Verwirrung hervorgerufen hat.

Nachdem Samuel Ehrenmann seine Gefängnisstrafe wegen Irreführung einer staatlichen Behörde abgesessen hatte, fand er Aufnahme in einem Asyl für schwachsinnige Greise, wo er an einem wissenschaftlichen Werk über die Gicht als betrügerische Vorspiegelung von Erbschleichern arbeitet. Was Frau Ehrenmann betrifft, so wurde ihr auf dem Vergleichswege die Chaiselongue zugesprochen, auf welcher sie ihr Samuel nicht zur Witwe werden ließ.

Sie verbringt ihren Lebensabend in einem Heim für verlassene Matronen und klöppelt dort für das gerettete Möbelstück eine moderne schwarzumränderte Chaiselonguedecke.

Erich Mühsam


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