Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun? (Angehörige)

Ursel, Dienstag, 16.01.2007, 19:51 (vor 6321 Tagen)

Hallo,
vor einem halben Jahr rief mich ein alter Freund an und bat mich um Hilfe bei einem Wohnungswechsel wegen Eigenbedarfskündigung. Er war früher Gruppenleiter einer Angehörigen-Gruppe für Alkohol-/Medikamentenabhängige - meine damalige Beziehung habe ich vor 14 Jahren gelöst und hatte seither keinen Kontakt mehr zu ihm. Weil es ihm gesundheitlich sehr schlecht geht, wollte er ins betreute Wohnen.

Als ich das erste Mal seine Wohnung betrat, war ich frappiert. Da stapelten sich ungeheure Mengen von Büchern, CDs, Videokassetten in Regalen, dazwischen schmale Durchgänge wie in einem Nagetierbau. Es gab in dieser mehr als 100 qm großen Wohnung genau zwei Plätze - in der Küche und im Wohnzimmer, wo ein einzelner Mensch sitzen konnte. Er erklärte das damit, dass er nach seiner Scheidung seinen Besitz aus einem großen Haus in der Wohnung unterbringen musste und aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Aussortieren gekommen sei.

Wir haben eine neue Wohnung gefunden, nur knapp halb so groß wie die jetzige, aber betreut - ein wahres Wunder! Der Mietvertrag läuft seit Mitte November. Der Umzug ist eine Katastrophe. Er zieht sich hin seit Mitte Oktober. Am 31. Januar muss er definitiv raus.

Die Mithelferin, die ihm beim Aussortieren hlft (ich bin voll berufstätig und organisiere das Ganze "nur") ist am Rande des Nervenzusammebruchs. Ich bin auch nicht mehr weit davon entfernt. Erst vorgestern habe ich realisiert, dass ich in einen Messie-Umzug geraten bin. Eine Freundin erzählte mir von ihrer Messie-Mutter und mir fiel es wie Schuppen von den Augen.

Ich bin total erschüttert und total sauer. Alles ist plötzlich erklärbar. Was soll ich tun? Den Umzug durchziehen und dann die Beziehung abbrechen? Ihn allein lassen? Er ist 72. Er ist körperlich nicht mehr in der Lage, die Umzugskartons selbst auszupacken. Er selbst rührt übrigens keinen Finger bei der ganzen Aktion. Ich habe keine Lust mehr auf diesen Psycho-Scheiß. In der neuen Wohnung ist logischerweise noch weniger Bewegungsspielraum. Er nimmt alles mit! Alte Schuhe (ca. 100 Paar), abgelaufene Medikamente, Tonnen von Klamotten etc. - ich fühle mich total verarscht und ausgenutzt. Soll ich das Thema Messie ansprechen? Sind Messies so berechnend und durchtrieben? Hat er das gewußt und mich getäuscht? Oder ist ihm seine Situation gar nicht klar? Ohne meine Hilfe hätte die Zwangsräumung angestanden. Morgen ist der Umzug.

Re: Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun?

Jenny, Mittwoch, 17.01.2007, 12:14 (vor 6320 Tagen) @ Ursel

Hallo Ursel,

wenn man endlich Durchblick hat, ist man erschüttert, gell? Wieso fühlst du dich verpflichtet, die ganze Arbeit allein zu machen, wenn du nur um Hilfe gebeten worden bist? Eigentlich geht es ja nur um den Auszug, für die neue Wohnung steht ihm ja die Betreung zu Seite, und ich vermute, die werden ihn schnell in ein Pflegeheim geben, da er ja offensichtlich nicht in der Lage ist, für sich selber zu sorgen.
Wieviel du machen willst, muß du selber entscheiden, informiere dich doch mal über Coabhängigkeit.

Liebe Grüße, Jenny

Re: Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun?

Ursel, Mittwoch, 17.01.2007, 19:37 (vor 6320 Tagen) @ Jenny

Hallo Ursel,
wenn man endlich Durchblick hat, ist man erschüttert, gell? Wieso fühlst du dich verpflichtet, die ganze Arbeit allein zu machen, wenn du nur um Hilfe gebeten worden bist? Eigentlich geht es ja nur um den Auszug, für die neue Wohnung steht ihm ja die Betreung zu Seite, und ich vermute, die werden ihn schnell in ein Pflegeheim geben, da er ja offensichtlich nicht in der Lage ist, für sich selber zu sorgen.
Wieviel du machen willst, muß du selber entscheiden, informiere dich doch mal über Coabhängigkeit.
Liebe Grüße, Jenny

Liebe Jenny,
du hast vollkommen recht. Gerade weil ich ja gut Bescheid weiß über Co-Abhängigkeit schrillen bei mir alle Alarmglocken: Meine Hilfe-Zusage läüft definitiv am 31. Januar ab.

Heute Umzug mit allem was ich erwartet habe: nur drei Umzugskartons gepackt, der gesamte Einrichtungsplan für die neue Wohnung wieder umgeschmissen, Riesentheater um die Mitnahme von irgendwelchem Plunder, völlig entsetzte Umzugshelfer, die so etwas noch nie gesehen und erlebt haben haben, unendlich viel Zeit, die verschwendet wurde, um altersschwache, sperrige Möbel durch den Nagetierbau nach draußen zu befördern.

Was tut man, wenn so jemand von Selbstmord spricht? Ich gehe darauf gar nicht ein. Ich kann das auch nicht wirklich ernst nehmen, denn das ist doch völlig unglaubwürdig und bizarr, wenn einer aus dem Fenster springen will, weil ich mich weigere, einen kraddeligen Resopaltisch mitzunehmen. Der soll in der neuen Wohnung über der Waschmaschine einen Aufbau von sinnlosem Plunder bis an die Decke ermöglichen. Das ist nicht meine Welt, ich bin keine Psychologin, das ist doch völlig krank!

Ich sitze jetzt hier, total verdreckt und erschöpft (die Badewanne läuft gerade voll und verspricht ein Reinigungsritual - auch für den Kopf), der Brechreiz hat sich gelegt. Und nun überlege ich, wie ich aus dieser Situation einigermaßen fair herauskomme. Vielleicht geht das gar nicht auf eine faire Weise. Vielleicht muss ich einfach sagen "jetzt ist Schluss" und die Konsequenzen tragen, wie immer die sein mögen, trotz Geheule und Gedrohe. Hat jemand Erfahrungen mit Selbstmordrohungen von Messies? Wird er so weit gehen, wenn die Entrümpelungsfirma am 29.1. kommt und den ganzen Müll seiner natürlichen Bestimmung zuführt?

Ich wäre dankbar für Rückmeldungen. Und ich entschuldige mich bei allen Messies, die dieses Posting lesen für den Brechreiz. Aber es ist wirklich so für jemanden, der das noch nie zuvor erlebt hat.

Liebe & erschöpfte & deprimierte Grüße
Ursel

Re: Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun?

Jenny, Donnerstag, 18.01.2007, 10:01 (vor 6319 Tagen) @ Ursel

Hallo Ursel,

dein Freund zieht ja wirklich alle Register, um dich zu zwingen, den Umzug nach seinen Messievorstellungen durchzuziehen. Was sonst sind die Selbstmorddrohungen? Wie ernst sie gemeint sind, kann von uns niemand beurteilen. Bei meinem Mann bin ich mir sicher, er würde sich, wenn ich an seine Sachen gehen würde, nicht umbringen, aber die Familie verlassen, nur um seine Sachen zu retten. Wenn dein Freund seine Selbstmorddrohungen wiederholt, würde ich mit seinen Hausarzt sprechen, der ist dann dafür zuständig und nicht du hast die Verantwortung. Jeder Arzt ist verpflichtet, jemanden, der mit Selbstmord droht, in die Psychiatrie einzuweisen, dort wird er 3 Tage lang begutachtet, und wenn er keine Gefahr für sich selber dastellt, wieder entlassen, ansonsten therapiert.
Es ist kein Wunder, dass du dich erschöpft und deprimiert fühlst, aber sieh ein, dass dein Freund bestimmte Vorstellungen von deiner Hilfe hatte, die nicht mit deinen übereinstimmten. Er wollte sicher alles mitnehmen. Nun ist der Umzug gelaufen, und du hast dein Versprechen doch eingelöst. Alles andere ist nicht mehr dein Problem. Wenn dein Freund dich behindert, die Dinge auszusortieren, ist er nun halt für den Rest in der alten Wohnung selber verantwortlich. Und wenn er den Plan für die neue Wohnung umwirft, muss er auch da sehen, wie er weiterkommt. Du hast dein Versprechen eingelöst.
Entschuldige, wenn das alles hart klingt, aber ich lebe mit einem Messie und einer großen Familie, und wenn ich es nicht schaffen würde, mich hier in den Familienbereichen durchzusetzen, wäre für uns kein auch nur annähernd "normales" Leben möglich. Ich weiss, wie logisch manche Argumente von Messies klingen und wie man selber dadurch ganz durcheinander werden kann. Es hat bei uns viele Jahre gedauert, um eine gewisse Normalität wieder herzustellen.
Ich wünsche dir viel Kraft für die nächsten Tage und vor allem wieder einen klaren Kopf, tu dir selbst mal wieder was Gutes

Alles Liebe,
Jenny

Re: Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun?

m., Mittwoch, 17.01.2007, 19:16 (vor 6320 Tagen) @ Ursel

Hallo, Ursel,
viele Messies wissen nicht, daß sie Messies sind.
Sie spüren nur, daß sie sehr an ihren alten Sachen hängen.

Ich an Deiner Stelle würde den Umzug in die andere Wohnung durchziehen,
ihn die Kartons dort aber dann selbst auspacken lassen.

Den Kontakt abbrechen würde ich nicht, der Mann scheint doch , abgesehen von seinem Problem, wirklich nett zu sein. Ich bin sicher, daß er Dich nicht bewußt ausnutzen wollte.

Sprich ihn vorsichtig darauf an , daß er ein Messie sein könnte, ansonsten sollen er und sein Betreuer sich um das Problem bzw die Kartons kümmern.

Du solltest aber darauf achten, daß Du nur soviel Kontakt zu ihm hast wie Dir guttut.
viele Grüße von
m.

Re: Bin in Messie-Umzug geraten - was soll ich tun?

Ursel, Mittwoch, 17.01.2007, 19:58 (vor 6320 Tagen) @ m.

Hallo, Ursel,
viele Messies wissen nicht, daß sie Messies sind.
Sie spüren nur, daß sie sehr an ihren alten Sachen hängen.
Ich an Deiner Stelle würde den Umzug in die andere Wohnung durchziehen,
ihn die Kartons dort aber dann selbst auspacken lassen.
Den Kontakt abbrechen würde ich nicht, der Mann scheint doch , abgesehen von seinem Problem, wirklich nett zu sein. Ich bin sicher, daß er Dich nicht bewußt ausnutzen wollte.
Sprich ihn vorsichtig darauf an , daß er ein Messie sein könnte, ansonsten sollen er und sein Betreuer sich um das Problem bzw die Kartons kümmern.
Du solltest aber darauf achten, daß Du nur soviel Kontakt zu ihm hast wie Dir guttut.
viele Grüße von
m.

Liebe/r m.,
danke für deinen lieben und sehr klaren Ratschlag. Ich werde den Umzug durchziehen, denn ich habe das versprochen. Dann ist aber Schluss.

Gestern war ich mir noch ziemlich sicher, dass ich schamlos und zielgerichtet ausgenutzt werde, heute glaube ich, dass er sich nicht klar ist über sein "Messietum". Du hast recht: ich mag ihn, oder: ich mochte ihn. Ich habe mich gefreut als er sich nach so langer Zeit bei mir gemeldet hat. Ich war damals bei ihm daheim zu Besuch und es war daran nichts messiemäßig Merkwürdiges. Kann eine Scheidung so etwas auslösen? Oder ist das eine Alterserscheinung bei Leuten, die dazu veranlagt sind? In seinen Schränken fand sich (inzwischen aussortierte) Kleidung aus den frühen 80ger Jahren. Also hat er schon vorher "gehortet".

Es ist leider eine Tatsache, dass wir es bis zum 29., wenn der Entrümpeler kommt, nicht schaffen werden, alles auszusortieren. Was wird dann passieren?

Liebe Grüße
Ursel

Re: wie wäre es mit einer Garage als Notlösung?

Almut, Mittwoch, 17.01.2007, 22:34 (vor 6320 Tagen) @ Ursel

hallo ursel,

aus zeitmangel kann ich dir im moment nur kurz antworten und einen tipp geben, eventuell alles, was zuviel ist, in eine garage zu tun.
klar, das ist irrational, es kostet (etwas) geld, und die dinge werden vlt. nie mehr dort (von ihm) rausgeholt, erspart aber im moment nerven und schützt ihn vor seinen verlustängsten und das ist es wert, meine ich.

ja, scheidungen und gravierende lebensereignisse können ein messietum auslösen und ja, leider bringen sich auch welche um, wenn sie keinen ausweg sehen und die zwangsentrümpelung droht. für viele messies sind ihre sachen ihr einziger halt und ein symbolischer teil von ihnen selbst.

die antwort von m. fand ich auch sehr hilfreich.

viele grüße und meine anerkennung, dass du trotz deiner belastung soviel hilfst!

Almut

Re: wie wäre es mit einer Garage als Notlösung?

Ursel, Mittwoch, 17.01.2007, 23:32 (vor 6320 Tagen) @ Almut

hallo ursel,
aus zeitmangel kann ich dir im moment nur kurz antworten und einen tipp geben, eventuell alles, was zuviel ist, in eine garage zu tun.
klar, das ist irrational, es kostet (etwas) geld, und die dinge werden vlt. nie mehr dort (von ihm) rausgeholt, erspart aber im moment nerven und schützt ihn vor seinen verlustängsten und das ist es wert, meine ich.
ja, scheidungen und gravierende lebensereignisse können ein messietum auslösen und ja, leider bringen sich auch welche um, wenn sie keinen ausweg sehen und die zwangsentrümpelung droht. für viele messies sind ihre sachen ihr einziger halt und ein symbolischer teil von ihnen selbst.
die antwort von m. fand ich auch sehr hilfreich.
viele grüße und meine anerkennung, dass du trotz deiner belastung soviel hilfst!
Almut

Liebe Almut.
danke für deinen Rat und deine Infos. Ich versuche, das zu berücksichtigen. Die Idee mit der Einlagerung ist gut. Hatte auch schon daran gedacht. Mal schauen, ob sich das realisren lässt.

Liebe Grüße
Ursel

Re: @Ursel

Almut, Donnerstag, 18.01.2007, 01:06 (vor 6319 Tagen) @ Ursel

Liebe Almut.
danke für deinen Rat und deine Infos. Ich versuche, das zu berücksichtigen. Die Idee mit der Einlagerung ist gut. Hatte auch schon daran gedacht. Mal schauen, ob sich das realisren lässt.
Liebe Grüße
Ursel

liebe Ursel,

es freut mich, wenn ich dir helfen kann. du hast völlig recht, auch mit deinem beitrag im anderen forum. bei deinem bekannten ist es vielleicht etwas anders, weil er ja allein lebt und direkt keiner unter ihm leidet, außer in fällen, wo gehandelt werden muss und da liegt die hauptbürde auf dir und den helfern.

allgemein kann man sagen, dass die messiestörung ebenso wie die alkoholkrankheit, andere suchterkrankungen, borderline usw. zu den störungen gehören, bei denen fast immer die angehörigen viel mehr leiden als die betroffenen selbst, denn das messieverhalten, der alkohol und die sucht sind ja bereits "lösungen" für nicht angegangene und überfordernde probleme.

deshalb tun mir auch nur die messies leid, die ihr elend alleine ausbaden müssen und von niemandem aufgefangen werden.

weiterhin viel geduld und gute nerven für den endspurt und ich würde mich freuen, weiter von dir zu lesen!

almut [[winke]]

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