Mein Onkel ist tot (Angehörige)

eisbär, Mittwoch, 23.01.2008, 14:05 (vor 5962 Tagen)

Gestern habe ich erfahren, dass mein Onkel tot ist.

Er war ein Messie, und darum kann ich mit kaum jemandem darüber reden, ich habe ihn auch schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wenn ich den Sachverhalt jetzt hier so schreibe, dann bin ich recht schnell fertig. Aber so einfach ist es nicht. Zwei, drei Sätze reichen nicht, um mir das jetzt von der Seele zu schreiben.

Mein Onkel ist Jahrgang 44 gewesen, er war als Kind oft krank und viel im Krankenhaus. Wahrscheinlich hat er auch einmal eine Hirnhautentzündung gehabt. Auf jeden Fall war er irgendwie geistig zurückgeblieben. Ohne, dass man das jetzt wirklich konkret benennen konnte, was er hatte.

Bis ich etwa 5 Jahre alt war, habe ich mich super mit ihm verstanden, es war so eine Ebene. Aber je älter ich wurde, habe ich immer mehr gemerkt, dass er nicht - ja, wie soll ich das sagen?- beziehungsfähig?- war. Ich meine, man konnte mit ihm nicht vernünftig reden. Er war nicht kommunikations-fähig. Er machte viele Gedankensprünge, man konnte mit ihm kein "richtiges" Gespräch führen, er hatte keine Argumente für das, was er sagte. Kurz gesagt, er ist wohl irgendwann auf der Stufe eines etwa 5jährigen stehen geblieben.

Dabei hatte er damals noch ein Auto, und er ging auch arbeiten. Eine Schreinerlehre hatte er bestanden gehabt, hat aber als Hilfsarbeiter gearbeitet, bis er entlassen wurde. Danach hat er keine Arbeit mehr gefunden, wahrscheinlich auch wegen seines Redens. Er lief viel durch die Gegend und führte Selbstgespräche. Wenn wir - Bekannte und Verwandte - ihn im Einkaufszentrum oder sonstwie auf der Straße sahen, haben wir immer versucht, an ihm vorbei zu kommen, ohne von ihm gesehen zu werden. Er führte wie gesagt immer Selbstgespräche, und er war oft nicht gewaschen, was man ihm auch ansah- und -roch.

Meistens lief er im Einkaufszentrum herum. Er tat niemandem etwas und war an sich harmlos, aber es war eben peinlich, mit ihm gesehen zu werden.

Bis vor etwa 30 Jahren hat er noch bei seinen Eltern, meinen Großeltern, gewohnt. Dadurch habe ich ihn öfter gesehen und war auch in seinem Zimmer. Sein Zimmer war voll mit - man kann es nicht anders sagen - Gerümpel. Hauptsächlich bestand dies Gerümpel aus Zeitungen, die er hüfthoch im ganzen Zimmer gestapelt hatte. Dazwischen waren Sachen, die er gefunden oder gekauft hatte. Sachen, die er eigentlich gar nicht brauchte. Zum Beispiel Waschmittel, im Sonderangebot gekauft (meine Oma hat seine Sachen gewaschen). Es standen auch mehrere Fernseher in seinem Zimmer, die meisten kaputt. Auch Verpackungen hatte er gesammelt, und es war auch ziemlich viel Glas da. Flaschen, Gläser, dazwischen Kleingeld. Man konnte bis zu seinem Bett kommen, mehr Platz war da nicht. Eine Zeitlang hat er auch in einer Kuhle auf den Zeitungen geschlafen. In seinem Zimmer war nichts, was meinen kindlichen Forschergeist geweckt hätte. Und das, obwohl ich ziemlich aufgeweckt war. Es muss wohl wirklich viel Nutzloses da gesammelt worden sein.

Später sind dann meine Großeltern umgezogen, und er hat eine eigene Wohnung bekommen. Natürlich hatte er die auch sehr schnell wieder zugemüllt. Irgendwann vor vielleicht 15-20 Jahren wurde diese Wohnung dann irgendwann mal Zwangs-entrümpelt, ich weiß aber nicht mehr, ob von der Familie oder von der Hausverwaltung. Seitdem war niemand außer ihm mehr in der Wohnung.

Mein Onkel ist aber noch regelmäßig zu seinen Eltern zum Essen gekommen und hat auch seine Wäsche gebracht. Er hat sich aber kaum noch gewaschen. Konnte er wahrscheinlich auch gar nicht, weil er wohl nicht ans Waschbecken gekommen ist. Vor etwa 5 Jahren sind dann seine Eltern gestorben, und meine Mutter hat ihn ein-oder zweimal im Monat zum Essen bei sich gehabt, hat seine Wäsche gewaschen und ihm gesagt, wenn er mal neue Kleidung brauchte oder so. Dann ist er auch gegangen und hat sich etwas gekauft.

Vor 5 Jahren war es auch, dass seine Geschwister ihm angeboten haben, dass er in der Wohnung seiner Eltern wohnen kann und sie ihm helfen, seine Wohnung zu renovieren. Auch Gegenstände aus dem Nachlass seiner Eltern haben sie ihm angeboten (Fernseher, Waschmaschine). Er wollte nichts haben, und er wollte auch nicht, dass seine Wohnung renoviert wird.

Etwa um diese Zeit, aber noch vor dem Tod seiner Eltern, ist er eine Zeitlang von Jugendlichen belästigt worden. Der Eine hatte sogar Zugang zu dem Haus, in dem mein Onkel wohnte. Sie haben ihn wohl beschimpft und geärgert, wohl auch gedroht. Erst gestern habe ich erfahren, dass einer von den Jugendlichen auch mal auf seinem Balkon war. Mein Onkel hatte Angst vor ihnen, und auf Zureden meiner Mutter hat er diese Jugendlichen dann auch bei der Polizei mehrmals angezeigt. Schließlich haben sie ihn in Ruhe gelassen. Jedenfalls hat er nichts mehr von ihnen gesagt.

Am 14. Dezember hat meine Mutter meinen Onkel das letzte Mal gesehen. Er war zum Essen bei ihr. Weil er krank war (er klagte über Lungenprobleme, Magen- und Darmprobleme, Schmerzen in den Beinen), hat meine Mutter zu ihm gesagt, er soll zum Arzt gehen. Das wollte er aber nicht. Mein Vater muss Immunsuppressiva nehmen. Darum könnte es für ihn tödlich sein, wenn jemand mit einer ansteckenden Krankheit, und sei es auch nur eine Erkältung, ihn ansteckt. Eigentlich sollte mein Onkel zu Weihnachten einmal zu meinen Eltern zum Essen kommen. Aber wegen meines Vaters hat meine Mutter meinen Onkel zu Weihnachten wieder ausgeladen, weil er nicht zum Arzt gehen wollte.

Mein Onkel hatte kein Telefon. Darum haben seine Geschwister ihm geschrieben, wenn etwas war. So auch diesmal. Anfang Januar hat meine Mutter ihm nochmal geschrieben, dass sie sich am 11. Januar mit ihm treffen wollte. Er kam nicht. Das hat meine Mutter aber nicht wichtig genommen, weil sie gedacht hat, er ärgert sich, dass sie ihn zu Weihnachten wieder ausgeladen hat. Dass er nicht kam, schien ihr nicht auffällig. Was am 7. Januar passiert war, wusste sie nicht.

Am 7. Januar, wie ich heute von der Polizei erfahren habe, hat sich ein Nachbar über Lärm in der Wohnung meines Onkels beschwert. Die Polizei ist hingefahren, hat geklingelt. Niemand hat geöffnet, und da der Lärm auch vorbei war, hat die Polizei die Sache auf sich beruhen lassen wollen. Aber dem einen Polizisten ist beim Weggehen aufgefallen, dass im Fenster meines Onkels ein Loch war. Darum ist er noch einmal zurück gekommen und hat bei ihm einen Zettel an die Tür gemacht, dass er sich bei der Polizei melden soll.

Mein Onkel hat sich aber offensichtlich nicht gemeldet, und gestern hat die Polizei bei meiner Mutter angerufen, dass sie in die Wohnung wollen. Meine Mutter wollte nicht mit, weil sie meinem Onkel versprochen hatte, die Wohnung nicht zu betreten. So ist die Polizei dann ohne meine Mutter hin. Aber sie konnten die Tür nicht öffnen.

Mein Vater vermutete, dass mein Onkel von innen Zeitungen vor die Tür gestapelt hätte, damit niemand hinein kann.

Die Tür musste dann ausgebaut werden. Drinnen haben sie meinen Onkel gefunden. Ihn haben sie zur Klärung der Todesursache in die Gerichtsmedizin gebracht, die Wohnung wurde versiegelt. Entrümpeln muss wahrscheinlich jemand mit besonderen Schutzmaßnahmen, die Polizei sagte zu meiner Mutter, das wäre gesundheitsschädlich. Meine Mutter vermutete auch, dass - da er ja schon etwas länger da gelegen hätte- bestimmt auch jede Menge Ungeziefer sich extrem vermehrt hätte.

Sein Chaos, wie ich es kannte, war aber eher ungezieferfrei. Vielleicht ein paar Spinnen,aber er hatte früher niemals Hausmüll oder feuchte, stinkende Abfälle oder irgend so etwas in seinem Zimmer. Nur so Sachen, die eher trocken sind (Zeitungen)oder die Staub sammeln (Verpackungen, Gläser). Mein Onkel hatte auch nicht geraucht und nicht getrunken.

Als die Polizei da war, ich glaube, als dieser Lärm gemacht wurde, stand ein Flachmann vor der Tür. Diese Tatsache in Verbindung mit dem Loch im Fenster und der Äußerung meiner Mutter, dass mein Onkel in den letzten 6 Monaten vor seinem Tod jeden Monat noch 400 Euro zusätzlich zu dem vom Konto abgehoben hat, was er so zum Leben zur Verfügung hatte, hat in mir den Verdacht nahe gelegt, dass diese Jugendlichen von damals ihn vielleicht bedroht oder erpresst haben.

Mein Onkel hat nicht viel Geld ausgegeben. Er hatte eine Monatskarte, er ist immer noch viel durch die Stadt gelaufen, aber gekauft hat er eigentlich nichts. Diese Jugendlichen haben ihn nicht getötet, er war ja allein in der Wohnung, aber vielleicht haben sie ihn eingeschüchtert. Als meine Mutter ihn gefragt hat, konnte er ihr nicht sagen, wo das Geld hin war. Für mich sieht es so aus, als habe er jede Woche 100 Euro irgendwo gelassen.

Das war das, was ich so bis gestern erfahren hatte.

Nun wollte ich wissen, ob er friedlich eingeschlafen ist oder ob er leiden musste. Außerdem wollte ich auch wissen, ob das Loch im Fenster von außen (Stein oder so) oder von innen (Versuch, auf sich aufmerksam zu machen) war. Meine Mutter mochte das nicht so hinterfragen, die Sache an sich belastet sie schon genug. Darum habe ich heute mit dem zuständigen Polizisten gesprochen.

Ja, und jetzt kommt das, was so schlimm ist: Nach den ersten Vermutungen nach Öffnung der Wohnung sieht es so aus, als seien die Zeitungsberge irgendwie hinter der Tür zusammengestürzt. Mein Onkel war ja krank, es ging ihm nicht gut. Man vermutet, dass er wohl zu schwach war, das alles weg zu räumen. Darum hat er wahrscheinlich versucht, gegen das Fenster oder die Balkontür zu schlagen, entweder um auf sich aufmerksam zu machen oder um nach draußen zu kommen.

Ein Telefon hatte er ja nicht.

Mein Onkel lag in 1,80m Höhe auf seinen Zeitungen. Tot.

Scheint so, dass er entweder an seiner Krankheit gestorben ist - oder er ist elendiglich verreckt, verhungert und verdurstet.

Der Polizist selbst hat ihn nicht gesehen; nachdem er weg war, haben sich LKA und Feuerwehr um die weitere Öffnung der Wohnung gekümmert.

Mehr konnte mir auch der Polizist nicht sagen. Aber auch ihn hat dieser Fund sehr belastet. Erstmal der Zustand der Wohnung, und dann, dass niemand eingeschritten ist. Niemand zwangsweise die Wohnung entrümpelt hat. Die Nachbarn nichts gesagt haben, obwohl von außen erkennbar war, dass die Wohnung bis oben zu war mit Sachen. Meine Mutter ist bestimmt nicht ums Haus herumgegangen und hat hineingesehen. Schon aus Respekt vor seinem Willen.

Er fand das sehr verantwortungslos und meinte, man hätte meinen Onkel auch gegen seinen Willen zum Arzt schleppen müssen. Man hätte auch gegen seinen Willen dafür sorgen müssen, dass die Wohnung begehbar bleibt.

Aber - wollte mein Onkel das? Ich glaube nicht. Klar, sicher wollte er nicht SO sterben. Aber ich glaube bestimmt, dass er geahnt hat, dass er sehr krank ist, was auch immer er hatte. Er wollte bestimmt NICHT ins Krankenhaus, sonst wäre er zum Arzt gegangen. Ich glaube, er hat befürchtet, dass er so krank ist, dass sie ihn stationär einweisen. Meine Mutter meinte, er hat vielleicht Krebs gehabt. Klingt mir auch so.

Trotzdem ist es ganz schön krass, wenn einer von seinem eigenen Müll umgebracht wird. Und schlimm ist auch, dass man eigentlich mit niemandem darüber reden kann. Die hören "Messie", und dann ist die Klappe gefallen. Und Du als Angehöriger bist auch "so einer". Dann hören sie "geistig zurückgeblieben" und meinen gleich, so einer gehört in Gewahrsam.

Ich glaube, dass mein Onkel so gelebt hat, wie er wollte. Er WOLLTE keine leere Wohnung, er WOLLTE nicht ins Krankenhaus. Er hätte nicht gewollt, dass jemand einfach so in seine Wohnung eindringt. Sonst hätte er meiner Mutter nicht das Versprechen abgenommen, dass sie seine Wohnung nicht betritt.

Andererseits ist sein Tod unter diesen Umständen wirklich schrecklich.

Man macht sich Vorwürfe, "hätte ich..." "wäre denn, wenn..." - aber was hätte das mit IHM gemacht?


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