Re: Meine Tante ist ein Messie (Angehörige)

Sabine, Freitag, 10.08.2012, 21:04 (vor 4289 Tagen) @ silas

Hallo Silas,

Da hast Du in der Tat ein Riesenproblem und eine wirkliche Lösung gibt es nicht. Leider. Du kannst schon froh sein, wenn die Situation nicht noch weiter abrutscht. Es ist echt super, dass Du weiterhin Deiner Tante hilfst. Was immer auch der Pfarrer oder andere Leute sagen, die meisten Dinge machtst Du dabei richtig.

In der Sitation sind (wie Du auch schon erkannt hast) mehere Probleme miteinander verknüpft:<ul><li>Das Chaos an sich.</li><li>Durch den Krieg haben Deine Tante und Dein Onkel schlimme prägende Erfahrung mit Mangel an den elementarsten Dingen gemacht, dazu noch in sehr jungen Jahren</li><li>Beide sind in sehr jungen Jahren in einer Diktatur aufgewachsen, haben miterlebt wie Menschen verschwinden und Erwachsene einerseits mit unterdrückter Angst und andererseits mit vorgespielter Normalität reagierten. Auch Kinder haben schon mitbekommen, dass man niemanden trauen konnte und sehr auf seine Worte achten musste.</li><li>Wenn Deine Tante und Dein Onkel nach dem Krieg im Osten Deutschlands gelebt haben, ist auch noch die Diktaturerfahrung mit der DDR hinzugekommen. Wieder konnte man niemanden trauen, die Stasi hatte ihre Ohren und Spitzel überall.</li><li>Die Demenzerkrankung an sich.</li><li>Durch ihre beginnende Demenz merkt Deine Tante, dass die zunehmend Dinge nicht mehr kann und auf Hilfe angewiesen ist. Normale Situationen scheinen plötzlich bedrohlich. Zudem ist die Erkrankung tabubelastet. Wem kann sie noch vertrauen? Dadurch können auch alte Traumas die aus der Diktatur-Erfahrung stammen, wieder auf brechen.</li><li>Plötzlich mischen sich fremde Leute ein, alte Narben und Traumas reißen wieder auf.</li><li>Durch das Chaos wird die Möglichkeit der Unterstützung durch einen Pflegedienst erschwert. Dadurch nimmt Deine Tante sich möglicherweise die Chance, lange selbstständig wohnen zu können.</li></ul>

Wenn Du überhaupt etwas erreichen kannst, dann nur mit viel Geduld und Liebe.

Kriegserfahrungen
Lass Dir von Deiner Tante erzählen, wie das war im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Frage, wie sie es erlebt hat. Dadurch hilfst Du Deiner Tante, die Situation zu verarbeiten. Wenn Du Deine Tante dafür lobst, wie sie diese Jahre der materiellen Not gemeistert hat, erlangt sie neues Selbstvertrauen, das ihr eventuell hilft, mit den aktuellen Herrausforderungen umzugehen. Du gewinnst dadurch ebenfalls, denn dadurch wirst Du ein noch vertrauteres Verhältnis zu Deiner Tante bekommen.


gehortete "Schätze": vorsichtige versteckte Denkanstöße
Frage Deine Tante ganz ruhig, wozu sie die alten Verspackungen noch verwendet und ob sie eine Idee hat, wo sie diese am sinnvollsten aufbewahrt. Dabei gilt: gleiches zu gleichem. Wobei sich das 'gleiche' auf die Art des Gegenstandes oder auf den Verwendungszweck beziehen kann. Daraus ergibt sich ein sinnvoller Aufbewahrungsort. Schlage ihr evtl. vor, wie es wäre, einen neuen Schrank zu kaufen und frage sie, wo dieser aufgestellt werden könnte. Vielleicht bewirken diese unauffälligen Denkanstöße, dass Deine Tante merkt, dass sie bei zu viel aufbewahrten Verpackungen keinen Überblick mehr hat und sie dadurch dass sie suchen muss, genauso dasteht, als hätte sie keine einzige Verpackung aufbewahrt. Und sie erkennt vielleicht, dass eine zu große Menge aufbewahrter Sachen teuer ist, weil sie neue Schränke braucht. Vielleicht kannst Du ihr Infoflyer zu Lagerräumen zeigen. Dann sieht sie vielleicht, wie teuer das ist und erkennt, dass Platz und Wohn-oder Lagerfläche auch wertvoll ist.
Vielleicht erreichst Du ja über viele geduldige Zwischenschritte einen Kompromiss. Deine Tante bewahrt eine überschaubare Anzahl an Verpackungen und Zeitungen auf. Dabei kann altes duruch neues ersetzt werden, wie Deine Tante es für richtig hält.

Zeitungen und Reklame als Informationsquelle
Hinter dem Horten von Zeitungen und Reklame steht oft das Bedürfnis nach Information und die Angst, wichtiges zu verpassen. Durch das Horten sollen Informationen jederzeit verfügbar sein. Nur geht mit der Fülle der Überblick verloren. Wäre Deine Tante in der Lage, in den Zeitungen eine Information zu einem bestimmten Thema schnell zu finden? Vielleicht erkennt sie ja dann die Sinnlosigkeit von Zeitungsstapeln.
Bei Deiner Tante kann es auch eine Rolle spielen, dass sie durch die schlechte Zeit nach dem Krieg und damalige Geschlechterrollen (Mädchen heiraten doch eh und brauchen keine Ausbildung) nicht das lernen oder studieren konnte, was sie gerne gemacht hat. Lass Dir erzählen, wie sie die Zeit erlebt hat und zeige Verständnis und Anerkennung.

Altmaterial für einen guten Zweck?
Manchmal finden Sammelaktionen statt, wo altes Material gesammelt wird und beim Altpapierhändler bzw. Altwarenhändler zu Geld gemacht wird und der Erlös dann für einen guten Zweck verwendet wird. Vielleicht gibt es in der Umgebung Deiner Tante so eine Aktion. Gerade Messies sind oft sehr hilfsbereit. Wenn das klappt, gibst Du Deiner Tante das Gefühl geholfen zu haben und es ist wieder ein wenig aufgeräumt.

Hauptsache begehbar
Wie Du schon richtig erkannt hast, ist es wichig, dass die Wohnung begehbar ist. Wie Deine Tante die Wohnung gestaltet und dekoriert, geht andere Leute (damit meine ich den Pfarrer und den sozialpsychatrischen Dienst) nichts an. Deine Tante hat alle Freiheit der Welt, Materiallager und Zeitungsarchive anzulegen, solange sie niemanden damit gefährdet. Ebenso darf sie sich in ihrer Wohnung eine Dunkelkammer einrichten. Solange die Wohnung begehbar ist, keine Lawinengefahr herrscht und es weder krabbelt noch stinkt, ist es Privatsache.


Wo wird es ungesund?
Es ist natürlich ungesund, wenn es in der Wohnung dauerhaft zu dunkel ist. Versuche, Deiner Tante Lust zu machen auf Sonne und frische Luft. Erzähle ihr doch einfach, wie schön draußen die Sonne schein und die Vögel singen. Zeige ihr Zeitungsartikel (evtl. aus dem Internet), die schreiben, wie wichtig genug Licht und ausreichende Belüftung in der Wohnung für die Gesundheit ist, gerade in fortgeschrittenen Alter.
Lobe sie dafür, wie sie Deinen Onkel pflegt. Das ist schon in jungen Jahren eine Herausforderung und für Deine Tante erst recht. Lobe die große Verantwortung, die Deine Tante auf sich nimmt. Wenn Du ihr Hilfe anbietest bei der Pflege Deines Onkels, ist sie vielleicht eher bereit, sich helfen zu lassen. Vielleicht sieht sie selbst: "Der Onkel braucht Licht" oder "Der Onkel braucht frische Luft." Gerade die Generation, die Erfahrung mit dem Krieg und den Nachkriegsjahren hat, ist sehr verantwortungsvoll. Damit kannst Du Deine Tante überzeugen, dass es wichtig ist, die Rollos zu reparieren.


Einmischung durch Nachbar und Pfarrer
Der Nachbar stand vor einer schwierigen Situation. Er hat gesehen, dass seine Nachbarn, ein altes Ehepaar mit gesundheitlichen Problemen, in einer verwahrlosen Wohnung leben. Er möchte sich vielleicht diskret verhalten und direkte Einmischung vermeiden, andererseits sich aber auch kümmern. Denn wie oft hat man schon Schlagzeilen gelesen wie: "Altes Ehepaar nach Monaten in total verwahrloster Wohnung gefunden. Nachbarn wussten alles und taten nichts." Der Nachbar Deiner Tante scheint sich echt Gedanken gemacht zu haben, da er sich an den Pfarrer gewandt hat. Ein Pfarrer hat Schweigepflicht und erscheint in den Augen vieler Menschen als jemand, der gerade für ältere Leute als Vertrauensperson gelten kann. Statt sofort höchste Alarmglocken zu läuten, hat der Nachbar eine niederschwellige Hilfsmöglichkeit gewählt.
Der Pfarrer scheint sich mit der Messieproblematik nicht auszukennen und sieht nur die völlig verwahrloste Wohnung, deren Zustand sich scheinbar nicht bessert. Dabei ist es schon eine große Leistung, den Status quo zu erhalten und zu vermeiden, dass es schlimmer wird. Bitte den Pfarrer, sich mal im Internet nach Seiten über Messies umzusehen. Dann wird er sehen, dass es für Hilfe und Besserung sehr sehr viel Geduld braucht. Vielleicht wird er Dich dann auch besser verstehen und Dir glauben, dass Du alles unternimmst, was Dir möglich ist. Und er kann auch die Nachbarn fragen, die werden Dich und Deinen Mann sicher öfter gesehen haben. Und sicher auch gehört haben, wenn Ihr den Rasen gemählt habt.
Versuche auch den Pfarrer zu verstehen. Es ist ihm immerhin positiv anzurechnen, dass er sich kümmert und mit Dir Kontakt aufnimmt. Vielleicht hat er die Situation dramatischer eingeschätzt und es für unvermeidbar gehalten, den sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. Er weiß ja nicht, wie sich die Sitation über viele Jahre (oder Jahrzehnte) entwickelt hat. Es geht vielen Angehörigen von Messies so, auch wenn sie helfen so gut es ihnen möglich ist, wird ihnen immer einer vorwerfen, die Messie-Tante oder die Messie-Eltern vergammeln zu lassen. Leg Dir da am besten ein dickeres Fell zu. Dort wo der Pfarrer zu weit geht - irgendwelche Testamente gehen ihn wie Du schon siehst einen feuchten Kehricht an - weise ihn freundlich und deutlich in seine Grenzen.

Der sozialpsychiatische Dienst - eine Katastrophe
Der vom Pfarrer eingeschaltete sozialpsychiatrische Dienst hat sich nicht nur total dilletantisch, sondern auch übergriffig verhalten. Wenn die auch nur ein bisschen Ahnung von Demenz und der Messieproblematik, überhaupt von Psychologie hätten, dann müßte denen eigentlich klar sein, dass Hauruck-Aktionen alles nur schlimmer machen und dass man nur mit kleinen Schritten und viel Verständnis Besserung erreichen kannst. So, wie du das beschreibst, hat sich der sozialpsychiatrische Dienst verhalten wie die Axt im Walde. Und Du sitzt jetzt da mit dem Scherbenhaufen, den die angerichtet haben.
Wenn Du das Vertrauen Deiner Tante in Dich und andere Menschen wieder herstellen möchtest, brauchst Du ganz viel Geduld. Vielleicht, oder eher wahrscheinlich, solltest Du Deiner Tante helfen, sich über den sozialpsychiatrischen Dienst zu beschweren bei der nächst höher gelegenen Instanz, also eine Dienstaufsichtsbeschwerde machen. Eventuell, wenn Deine Tante das auch gut findet, kann der Hausarzt bescheinigen, das derartige Hauruckaktionen die Demenzsymptome und das Kriegstrauma verschlimmern können. Dann solltest Du Deine Tante auch zur Polizei begleiten, damit sie Anzeige erstatten kann wegen Hausfriedensbruch, Entwenden von Eigentümern und Nötigung. Auch wenn es in den Augen von Normalis nur alter Plunder war, dieser alte Plunder zählt auch zum Eigentum. In manchen Städten zählt es als Diebstahl, wenn man Gegenstände, die eindeutig als Sperrmüll auf den Gehweg gestellt wurden, mitnimmt. Die Zeitungen und Verpackungen Deiner Tante befanden sich noch in ihrer Wohnung. Solange sie niemanden gefährdet, darf sie sammeln was sie will.


Kleine Schritte
Wichtig ist, dass Du weiterhin kleine Schritte machst und nur die Dinge machst, die Deine Tante zuläßt. Das hast Du bisher richtig gemacht. Bei der Frage, welche Sachen weggeworfen werden können, ist es in der nächsten Zeit besser, Deine Tante bei jedem einzelnen Teil zu fragen. Das scheint zwar mehr Zeit zu kosten, jedoch braucht Deine Tante Zeit, um wieder zur Ruhe zu kommen und das Vertrauen in andere Menschen zurückzugewinnen.
Solange die Wohnung begehbar ist, ist alles noch im grünen Bereich. Falls Du Dir Sorgen machst, wie sich bei einem Notfall ein Notarzt in der Wohnung bewegen kann, kann ich Dich beruhigen. Wenn ein älteres Ehepaar sich dort bewegen kann, kann ein Notarzt es auch. Auch in normal aufgeräumten Wohnungen kann es zu eng sein für eine Krankentrage, für solche Fälle halten Rettungsdienste Tragetücher bereit.


Fähigkeiten erhalten
Da bei Deiner Tante und Deinem Onkel auch Demenz eine Rolle spielt, ist es wichtig, dass beide in guter ärztlicher Behandlung sind. Es gibt inzwischen Medikamente, die ein Fortschreiten der Erkrankung verzögern können. Diese Woche stand ein Bericht im Spiegel, dass bestimmte Formen von psychischen Erkankungen und Demenz Folge einer Entzündung im Gehirn sind und sich mit Cortison behandeln lassen.
Neben Behandlung durch Medikamente können Menschen, die an Demenz erkrankt sind, auch durch regelmäßiges Training sich Fähigkeiten so lange wie möglich erhalten. Schau also auch gut hin, ob Deine Tante und Dein Onkel bei einem guten Neurologen und bei einem guten Ergotherapeuten in Behandlung sind.


Selbsthilfegruppen
Es gibt Selbsthilfegruppen für Messies, Angehörige von Messies, Kriegskinder, Demenz, Angehörige von Dementen. Schau wo Du Informationen und Hilfe bekommen kannst. Gerade wenn auch noch Demenz eine Rolle spielt, ist es für Angehörige besonders hart, einen geliebten Menschen immer mehr an diese furchtbare Krankheit zu verlieren. Da kann eine Selbsthilfegruppe für Angehörige wichtig sein, um mit der Situation gemeinsam besser fertig zu werden.

Lass se doch reden
Wenn der Pfarrer oder die Sozialfuzzies zu aufdringlich reinreden, weise sie darauf hin, dass Du Dein bestes gibst. Und dass es für Deine Tante und Deinen Onkel wichtig ist, dass sie neben der Hilfe im Haushalt auch Zuwendung von Dir bekommen.

Ich wünsche Dir ganz viel Kraft und Energie, dass Du weiterhin Deiner Tante und Deinem Onkel gut helfen kannst und dass Du ihnen schädliche Einmischung vom Hals halten kannst.

Grüße,
Sabine


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