Leeres Hirn? Gutes Stichwort, liebe Emja und Fatima ((M)Essies)

Schlumpfine, Mittwoch, 26.11.2003, 12:58 (vor 7480 Tagen)

Liebe Emja,

Leeres Hirn? Gutes Stichwort.

Ein "leeres Hirn" zu bekommen ist der Hauptzweck meiner selbstzerstörerischen Essanfälle. Der übervolle Verdauungstrakt sorgt rein physiologisch schon für eine gewisse Blutleere im Hirn. Dadurch wird mein Gedankenkarussel (mal zu Kao 'rüberwink [image]) abgebremst und meine Wahrnehmung wird von der Vergangenheit ("Wie konnte ich nur so blöd sein?! So vertrauensselig und dummgut!? Warum habe ich nichts gemerkt?! Bin ich wirklich so blöd??!!") in die Gegenwart gelenkt ("Kein gesunder Mensch isst, stopft sich vorsätzlich mit ungesundem, fetten Essen voll, bis ihm schlecht ist und mästet sich zum Krüppel! Du bist ein hoffnungsloser Fall!! Therapieversagerin!!!"). Das ist zwar auch nicht wohltuender, aber irgendwie vertrauter und weniger schmerzhaft.

Wenn ich mich total übel fühle und die Auslöser dafür (das Verhalten anderer Menschen) weder kontrollieren noch abstellen kann, gibt es mir ein Stück innere Sicherheit und inneres Gleichgewicht wieder, wenn ich mir selbst eine "greifbare" (das dürft Ihr gerne wörtlich nehmen), reale "Ursache" für mein mieses Gefühl schaffen kann: Es ist tatsächlich kein Vergnügen in einem extrem fetten Körper (heute morgen: BMI 44,1) zu leben. Das damit verbundene Körpergefühl, die tatsächlichen Unannehmlichkeiten und Einschränkungen liefern für eine Menge "Unwohlsein" ganz rationale Gründe, die auch Menschen mit anderen Problemen mühelos nachvollziehen können, wenn sie wollen. Dasselbe gilt für mein Chaos und die finanziellen Sorgen infolge der Arbeitslosigkeit. Es ist kein Hinweis darauf, dass mit mir etwas nicht stimmt, wenn ich mich unter solchen Umständen unwohl fühle. Ich bewahre mir die Illusion, das Unwohlsein werde vergehen, wenn ich diese Probleme, die ihrer Natur nach als lösbar und in meinem Einfluß liegend erscheinen, erst gelöst habe.

Kein Gedanke daran, dass die Probleme Ausdruck und Anzeichen der tieferliegender Ursachen in mir sein könnten, trübt meine Zuversicht auf ein erfülltes glückliches Leben, wenn ich nach einem Essanfall mit blutleerem Hirn und voller Selbstvorwürfe herumliege und mir vornehme, endlich gesund zu leben (meine Unordnung wirksam und nicht nur oberflächlich zu bekämpfen, aktiv etwas zur Verbesserung meiner beruflichen und finanziellen Situation zu tun). Wenn ich mich so schlecht fühlte, obwohl ich nicht dick (unordentlich, erfolglos ...) wäre, müsste ich vielleicht an weniger greifbaren "Baustellen" in mir Hand anlegen. Im Vergleich dazu ist ein Gewichstverlust von ein paar kg, ein aufgeräumter Schreibtisch, eine saubere Küche oder eine sportliche Betätigung eine sehr überschaubare, lösbare Aufgabe und ich gebe mich immer wieder mit Vergnügen der Illusion hin, wenn ich nur erst schlank (ordentlich, beruflich erfolgreich) wäre, wären meine Probleme gelöst und mein Wohlbefinden stabiler.

Tatsächlich ist es auch so, dass mein Wohlbefinden seeeehr positiv beeinflusst wird, wenn ich es schaffe, auf den äußeren Problemfeldern sichtbare, reale, messbare Fortschritte zu erzielen und ich möchte keinesfalls dahin zurück, wo ich war, bevor ich anfing, mich intensiv um die Klärung der realen, fassbaren Probleme in meiner Lebensführung zu bemühen. Aber immer wieder stieß ich an eine Wand, eine innere Blockade, die es mir unmöglich machte, mehr Wohlbefinden zuzulassen. Erst in der Klinik wurden erste Blicke auf die tiefen Vernarbungen und Verkrüppelungen meiner inneren Einstellungen und deren Ursachen möglich. Ich erinnere mich noch gut an meinen sprühenden Optimismus nach meiner Rückkehr im April. Ende Mai kam dann der Nackenschlag (mal zu Fatima 'rüberwink [image]), den ich vor der Klinik wahrscheinlich gar nicht überlebt hätte und an dem ich seitdem mitwachsender Verzweiflung (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn) "herumkaue".

Wie ein Schulkind, das (obwohl es - im Gegesatz zu einem Säugling, der gestillt werden will - längst weiß, dass das Ding nicht sattmacht), wieder zum Schnuller greift oder am Daumen lutscht, habe ich erneut Zuflucht bei den Verhaltensweisen gesucht, die vor dem Klinikaufenthalt meine Schmerzen betäubt ahben. Leider wirken sie nicht mehr so gut, denn es gibt keinen Weg zurück in meine alte Naivität. Der Glaube daran, dass schlank (ordentlich, finanziell und beruflich erfolgreich) zu sein, meine Probleme lösen würde ist mir abhanden gekommen - und damit die Illusion, durch überessen oder nicht essen, (schleifen lassen oder aktiv werden) die Kontrolle zurück zu bekommen, deren Verlust ich in den letzten Wochen so schmerzhaft gespürt habe. Seit ein paar Tagen spüre ich meine innere Klarheit wieder.

Ich habe eingesehen, dass das Päckchen, das das Schicksal mir aufgeladen hat, für mich alleine zu schwer zu tragen ist. Ich bin kein Versager, wenn ich darunter zusammenbreche. Ich kann es nicht abgeben - das will ich auch gar nicht. Aber ich kann die Verantwortung für boshafte Angriffe da lassen, wo sie hingehört: Bei den Tätern. Es ist nicht meine Schuld, wenn ich belogen, betrogen und hintergangen werde. Und es ist keine ungewöhnliche oder extrem kranke Reaktion, wenn exakt gezielte, perfide Angriffe auf meine ganz persönlichen Schwächen mich aus dem Gleichgewicht bringen und ich im Schock und in der Panik des ersten Schrecks zu den vertrauten, wenn auch als unbrauchbar erkannten Methoden zurückgreife, die ich fast 30 Jahre klang genutzt habe. Deswegen war die ReHa keinesfalls sinnlos, ganz im Gegenteil.

Einfluss habe ich nur auf mein eigenes, gegenwärtiges Verhalten, meine Worte, meine Gedanken und Gefühle. Nicht auf das was war. Und schon gar nicht auf das, was andere Menschen tun. Sie können tun, was sie wollen, ich kann sie nicht daran hindern. Ich kann nur spüren, ob es mir gut tut oder ob es mir schadet. Und dann kann ich meine Entscheidungen entsprechend treffen und durchführen. Ich, nur ich allein bin für mich und mein Wohlbefinden, meine Gesundheit und mein Leben verantwortlich. Kein anderer wird kommen, mich zu "erlösen". Trotzdem habe ich das Recht und die Pflicht, mir Hilfe und Unterstützung zu siuchen, denn dass ich etwas selbst tun muss, heißt noch lange nicht, dass ich es allein schaffen muss. Und niemand hat das Recht, mich daran zu hindern.

Ich habe wieder Kontakt zur Klinik aufgenommen, mich (im Einvernehmen und mit Unterstützung meiner ambulantenTherapeutin hier vor Ort ) den Ärzten und Therapeuten dort anvertraut und hoffe sehr darauf, kurzfristig wieder ein paar Wochen dort intensive Nachhilfe im Umgang mit neuen Schwierigkeiten zu bekommen. Allein dieser Entschluss und meine Schritte, ihn umzusetzen, haben sehr viel von meiner lähmenden Ohnamcht beseitigt. Gleichzeitig spürte ich, dass der extreme
Suchtdruck abnahm und fasste frischen Mut, hier in Eurer Runde mitzutun.

Seitdem bin ich Abstinent von meiner Esssucht:

Für mich heißt das:
- Keine Essanfälle!!!
- Kein Ignorieren des Sättigungssignals bei den regulären Mahlzeiten
- Kein übertriebenes Kalorienzählen
- Mühelose Reduzierung (nicht krampfhafte Vermeidung) extrem fetter und/oder süßer Speisen
- Gelassenheit im Umgang mit den Zahlen im Display meiner Waage, d. h. weder Verzweiflung noch Euphorie infolge von Gewichtsschwankungen
- Kein Zwang, Mahlzeiten auszulassen, zu veschieben oder zwischendurch zu essen
- Die innere Bereitschaft und das Verlangen nach wohltuender Bewegung und Körperpflege (Badewanne, Sauna, Dampfbad ...)

Ich erlebe diese Abstinenz nicht als Folge meiner ausgeprägten Disziplin und Willenskraft, sondern als befreiende Folge meines Entschlusses, nicht länger in der Lähmungsstarre des überrumpelten Opfers eines schmerzhaften Angriffs zu verharren und aktiv (Gespäch mit Therapeutin, eMail an den Oberarzt der Klinik) etwas zur Besserung meines Befindens zu tun. Und das spüre ich als deutliche Erleichterung - sogar auf der Waage [image] *freu*.

>(mit Waagentendenz nach UNTEN! [image] )
Wie schön für Dich, liebe Emja. Ich freue mich mit Dir [image].


Liebe Grüße

[image] Schlumpfine (heute mit BMI 44,1)


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