Re: Antwort an Cordula - Entzugssymtpome?? (Achtung, lang) ((M)Essies)
Liebe Cordula,
Du fragst, ob der Entzug bei mir schwierig war.
Es fällt mir schwer, Dir diese Frage zu beantworten, denn einerseits war die akute Entgiftungsphase schmerzhaft, andererseits konnte ich die Schmerzen gut aushalten, weil ich sie als rein körperliche Entgiftungssymptome wahrnehmen konnte, die in einem überschaubaren Zeitraum enden würde. Ob dieser Zeitraum bei mir einige Stunden, Tage, Wochen oder Monate dauern würde, wusste ich vorher nicht.
Zur Vorgeschichte meiner Sucht finde ich es wichtig zu erwähnen, dass ich in einer Fachklinik für Psychosomatik sechs Wochen stationär behandelt wurde. Dort wurden sowohl Menschen mit stofflichen Süchten (Nikotin, Alkohol, illegale Drogen, Medikamentenabhängige) als auch mit nichtstofflichen Süchten (Spielsucht, Co-Abhängigkeit, Sex- und Beziehungssucht, Arbeitssucht, Messies, zwanghafte Schuldenmacher u.ä.) behandelt. Auch Angstneurosen und Depressionen werden von den Therapeuten in dieser Klinik als Suchterkrankungen aufgefasst und behandelt.
Ich war dort wegen zwanghafter Essanfälle (Binge Eating Disorder), wegen der damit einhergehenden Migräneanfälle und wegen schwerer Depressionen mit Suizidneigung.
"Eine Sucht ist die persönliche Methode, die ein Mensch wählt, um sich selbst zu schaden." ist die Auffasung der Mitarbeiter dort. Depression z. B. sei "die Sucht, Konflikten auszuweichen".
Mir hat die stationäre Therapie und die anschließende eineinhalbjährige ambulante Gesprächstherapie sehr gut getan. Ich konnte tiefsitzende, halbverdrängte Erinnerungen (z. B. an sexuelle Übergriffe im Kindesalter) endlich in geschützter Umgebung ansehen und in meine erwachsene Lebenserfahrung integrieren. Das war teilweise extrem schmerzhaft und führte dazu, dass ich selbstschädigende innere Einstellungen (z. B. "Ich bin nichts wert.") als falsch erkennen und loslassen konnte.
* Ich bin liebenswert.
* Ich bin gut genug.
* Ich bin Frau genug.
* Ich bin berechtigt, mein Leben zu genießen.
* Ich bin berechtigt, Fehler zu machen.
* Ich selbst bin verantwortlich für mein eigenes Wohlergehen.
* Meine Bedürfnisse sind berechtigt und kein Grund, mich zu schämen, sondern die Brücke für die Liebe.
* Angst macht stark.
* Wut tut gut.
* Schmerz bringt mich nicht um.
* Freude und Liebe sind berechtigte Gefühle, die ich annehmen und genießen darf.
sind geänderte Einstellungen, die ich aus der Klinik mitbrachte und in der anschließenden Therapie verfestigen konnte.
Auch der regelmäßige Besuch von 12-Schritte-Gruppen wie AA (Anonyme Alkoholiker) oder ISA (Incest Survivors Anonymous) wurde den PatientInnen der Klinik allerwärmstens ans Herz gelegt - einige Ärzte und TherapeutInnen dort sind selbst langjährige, trockene Mitglieder solcher Gruppen.
In vielerlei Hinsicht ging es mir nach dem Klinikaufenthalt besser. Beim Essen nicht.
In der Klinik wurden Esssüchtige als Menschen mit einer nichtstofflichen Sucht behandelt. Die Abstinenz, die dort von allen Esssüchtigen (Menschen mit Magersucht, Ess-Brech-Sucht und zwanghaften Essanfällen) verlangt wurde, ist theoretisch einfach zu beschreiben und praktisch sehr schwer umzusetzen:
Drei "normale" Mahlzeiten pro Tag, d.h. die Menschen mit Magersucht durften nicht weniger, die Menschen mit zwanghafter Esssucht nicht mehr essen, als das Küchenpersonal allen anderen auch auf die Teller legte. Keine Einteilung in "erlaubte" und "verbotene" Lebensmittel, keine Angaben zu Kalorien oder Fettgehalt der Speisen. Nur Menschen mit Diabetes oder fachärztlich bescheinigten Allergien (z. B. Laktoseintoleranz) bekamen Diätkost, die das Küchenpersonal in Absprache mit dem behandelnden Arzt zubereitete. Alle Abstinenzregeln galten für alle. D. h. auch wer nicht wegen Alkoholismus in die Klinik kam, durfte keinen Alkohol trinken. Auch die Drogenabhängigen oder Spielsüchtigen ohne Essprobleme durften keine Speisen außerhalb des Speisesaals und außerhalb der Essenszeiten verzehren, auch wer wegen Esssucht - und nicht wegen Spielsucht oder Alkoholismus - in Behandlung war, durfte kein Casino im nächstgrößeren Kurort besuchen oder Kartenspielen. Niemand durfte rauchen usw.. Alle waren verpflichtet, sich täglich im Freien zu bewegen.
In dieser klinischen Umgebung war das Essen bald Nebensache für mich und es fiel mir leicht, mich dreimal am Tag satt zu essen und mich zwischen den Mahlzeiten anderweitig zu beschäftigen. Dafür sorgten schon die therapeutischen Anwendungen und Erfahrungen. So nahm ich sechs Kilo in sechs Wochen ab und lernte, mich vor den Mahlzeiten nicht mehr zu fürchten und darauf zu vertrauen, dass ich spüre, wann ich satt bin und machte die beglückende Erfahrung, dass ich es mühelos schaffte, vom Ende der einen bis zum Anfang der nächsten Mahlzeit abstinent zu bleiben. Auch war es selbstverständlich, dass ich zweimal pro Woche an OA-Meetings teilnahm - einmal in der Klinik und einmal in der nächstgrößeren Stadt.
Zuhause scheute ich mich zunächst, ins OA-Meeting im Nachbarort zu gehen - zu groß war meine Angst, dort von Bekannten entdeckt zu werden.
Mit Hilfe meiner Therapeutin versuchte ich, auch weiterhin die drei Mahlzeiten (Sattessen ohne Diätvorschriften, dreimal am Tag, kein Zwischendurch-Naschen) beizubehalten. In meiner gewohnten Umgebung und ohne ständige therapeutische Beschäftigung mit meinem Innenleben fiel mir das sehr viel schwerer. Dann kamen schwere Turbulenzen in meinem Privatleben dazu - und die zwanghaften Essanfälle waren wieder da.
Jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun und ging trotz meiner Scham ins OA-Meeting. OA selbst ist kein Diätclub und überlässt es jedem Teilnehmer selbst, seine Abstinenz zu definieren. Die Gründerin von OA hatte mit der Drei-Mahlzeiten-Variante ihre persönliche Form der Abstinenz gefunden. Andere OAs verzichten, um Suchtdruck zu vermeiden, auf kakao- oder koffeinhaltige Lebensmittel, wieder andere auf salzig-fettiges, wieder andere auf Zucker und Weißmehl ... ich war ziemlich verwirrt und versuchte, zu der Drei-Mahlzeiten-am-Tag ohne Einschränkung bei der Speiseauswahl zurückzukehren. Das klappte einfach nicht und ich wurde immer dicker. Sobald ich versuchte, mich "gesund" zu ernähren, qualitativ hochwertige Speisen wie Obst, Gemüse, Fisch, Vollkornprodukte u.ä. verstärkt in meinen Spieseplan einzubauen, quälten mich bohrende Kopfschmerzen, Migräneattacken mit tagelanger Lichtempfindlichkeit und Übelkeit mit schwerem Erbrechen - bis ich endlich wieder einen Teller Nudeln, eine Pizza, ein Döner im Brot, ein Salamibrötchen oder ein Knoblauchbaguette aß. Süßigkeiten waren nie so sehr mein Geschmack, aber würzige Speisen mit hohem Weißmehlanteil und unzähligen versteckten Zucker- und Aromastoffen forderte mein Körper mit brutaler Härte ein und bestrafte jeden Entzugsversuch mit diesen mörderischen Migräneattacken. Meine Therapeutin interpretierte diese Kopfschmerzen - ebenso wie ihr Chef, ein ausgewiesener Fachmann in der Behandlung essüchtiger Menschen - als neurotische Widerstände gegen das Loslassen süchtiger Verhaltensweisen. In OA hörte ich, dass Abstinenz das A und O auf dem Weg der Genesung sei - und verzweifelte an meiner Unfähigkeit, "meine" Abstinenz, wie ich sie in Der Klinik gelernt hatte, wieder zu bekommen. Ich gab völlig entmutigt die OA-Meetings auf und verabschiedete mich auch von der Hoffnung, jemals in der Therapie die Hürde über diese "neurotischen Widerstände" nehmen zu können, denn das mir von der Krankenkasse bewilligte Kontingent lief langsam aus.
Meine Beziehungen zu mir selbst und zu anderen Menschen waren so gut wie nie zuvor.
Weder die sexuelle Gewalt, der ich als Kind ausgesetzt war, noch das Chaos und die Unordnung hatten Macht über mein Leben.
Ich fühlte mich innerlich sehr, sehr wach und klar.
Und ich stopfte Essen immer noch in mich hinein, wie zu den Zeiten, als ich noch nichts von krankhafter Essucht gehört hatte.
Und dann - in der Woche vor meinem vorletzten Therapietermin und reichlich ein Vierteljahr nachdem ich OA entmutigt verlassen hatte, sah ich den Film "Super Size Me" im Kino und erkannte, dass die Essucht - ebenso wie andere stoffliche Süchte - durch bestimmte Substanzen ausgelöst werden kann. Bei Morgan Spurlock, dem Regissuer und Hauptdarsteller, entwickelten sich die grauenhaften Kopfschmerzen, der quälende Essdruck und der unheimliche "Kick" beim Verzehr des Junk Foods in wenigen Tagen. Ganz ohne Missbrauchserfahrungen und andere neurotische Macken, die er in das Experiment mitgebracht hätte - ohne traumatische Vorerfahrungen hat der Mann sich die Symptome 'einfach so' angefressen(!!!). Das öffnete mir die Augen und ich definierte meine Abstinenz neu:
- Zucker (auch wenn ich die Geschmacksrichtung "süss" nie sonderlich mochte)
- Weißmehl
- künstliche Aromastoffe und
- gehärtete Fette
strich ich von meinem Speiseplan.
Der Entzug war schmerzhaft und quälend. Schlimmer als ein Nikotinentzug - nicht so langwierig und schmerzhaft, wie ich in der Klinik Tablettensüchtige und Drogenabhängige um körperliche Entgiftung hatte ringen sehen.
Ich war arbeitsunfähig, brauchte viel Bettruhe, trank viel Wasser, nahm ab und zu, wenn die Kopfschmerzen unerträglich wurden, eine Schmerztablette, bewegte mich täglich geruhsam im Freien - und wartete, dass es vorbei ging, so wie ich es in der Klinik bei den anderen stofflich Abhängigen erlebt hatte. Wie gesagt, beim ersten Mal wusste ich nicht, ob es ein paar Tage, Wochen oder Monate dauern würde.
Vor dem zweiten Entzug - nach dem ersten Rückfall - hatte ich solche Angst, dass ich ihn wochenlang hinausschob und nur mit Hilfe der Magen-Darm-Infektion wieder von dem Gift loskam.
Ich habe grauenhafte Angst, dass ich den nächsten Rückfall nicht überleben werde und gehe wieder regelmäßig in die OA-Meetings in meiner Nähe um Erfahrung, Kraft und Hoffnung mit anderen zwanghaften Überessern zu teilen.
Liebe Cordula, ich weiß nicht, ob meine Erfahrungen Dir helfen und ich danke Dir, dass Du mir durch Deine Fragen Gelegenheit gegeben hast, mir selbst wieder einmal darüber klarzuwerden, was für ein kostbares und zerbrechliches Geschenk meine Abstinenz ist.
Die besten Wünsche von
Schlumpfine
gesamter Thread:
- Frage an Schlumpfine - Entzugssymtpome?? -
cordula,
15.11.2004, 12:51
- Re: Antwort an Cordula - Entzugssymtpome?? (Achtung, lang) -
Schlumpfine,
17.11.2004, 12:38
- Liebe Schlumpfine,,,,(Re: Entzugssymtpome?? ) - airam, 18.11.2004, 22:12
- Re: Antwort an Cordula - Entzugssymtpome?? (Achtung, lang) -
Schlumpfine,
17.11.2004, 12:38