Avatar

Erich Mühsam "Das Lebensprogramm" ( 2) (Off Topic)

Ruth @, Donnerstag, 24.09.2020, 17:49 (vor 1321 Tagen) @ Ruth

Das Programm umfaßte eng geschrieben einen Band von 1743 Seiten, die sich Samuel in Schweinsleder binden ließ. Als der Buchbinder seine Arbeit getan hatte, begann jener nach dem Programm zu leben, und er sah, daß er nichts zu bestimmen vergessen hatte. Das Buch gab ihm, wenn es nötig war, die Erlaubnis, sich einen neuen Rock zu kaufen, es wußte, wie oft sein Hut des Bügelns bedurfte, wann das Schuhwerk besohlt und das Hemd gewaschen werden mußte. Alles, bis ins kleinste alles war vorgemerkt. Denn der Geist Onkel Isaaks hatte Samuel die Feder geführt.


Ein Jahr nach dem anderen schwand dahin, und an jedem Neujahrstage – für diesen Tag hatte ihn das Programm von allen anderen Arbeiten dispensiert – prüfte Samuel Ehrenmann, ob er getan, wie es geschrieben stand. Und an jedem Neujahrstage kam er zu dem Ergebnis, daß er mit sich zufrieden sein dürfe und daß ihn sein Lebensprogramm niemals im Stiche gelassen habe. So wurde er alt und grau und lebte programmgetreu weiter an der Seite seiner lieben Frau, die sich den Bestimmungen des Schweinslederbandes verständ-nisvoll angepaßt hatte, umringt von seinen vorschriftsmäßig erzeugten und erzogenen Kindern und Enkeln.


Allgemach fühlte Samuel die Zeit nahen, da er sterben mußte.
Er durfte schon die Gicht bekommen, denn er war vierundachzigeinhalb Jahre alt. Aber das Reißen stellte sich nicht ein, und Samuel, der gar nicht in Erwägung zog, daß sein Programm sich etwa irren könnte, nahm an, daß bei ihm die Gicht schmerzlos und knötchenfrei aufträte, rieb also morgens und abends Knie und Schultern mit Opudeldok und Ameisenspiritus ein – wie es geschrieben stand.


An seinem fünfundachtzigsten Geburtstage schlug er den Leitfaden seines Lebens auf, berief nach dessen Maßgabe alle Familienmitglieder um sich und las mit lauter, etwas zitternder Stimme – so wurde es darin verlangt – diese Ansprache vor:

„Geliebte Gattin, treue Kinder, gute Kindeskinder! Seht, heute am 5. Juni dieses gesegneten Lenzes vollende ich mein fünfundachtzigstes Lebensjahr, und da ich am 27. Oktober dieses gleichen Jahres zu meinen Vätern und zu unserem in Gott ruhenden Onkel Isaak heimgehen muß, so könnt ihr ausrechnen, daß die Frist, die der Himmel mir noch gesetzt hat, heute genau vier Monate, drei Wochen und einen Tag beträgt. Diese Zeit ist mir bestimmt, um mich zum Tode vorzubereiten.

Dazu habe ich vor allen Dingen meine finanziellen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und jedem von euch zuzuteilen, was ihm aus meinem Nachlasse zufallen soll. So überreiche ich euch hier je eine spezielle Berechnung seines Erbschaftsanteils.“

Damit entnahm Samuel gemäß der Programmordnung diese zweiundzwanzig Scheine und verteilte sie unter dem Umstehenden. „Mir selbst“ fuhr er fort, „reserviere ich nun soviel, wie ich für den Rest des Lebens gebrauche. Das macht täglich 1 Mark 65 Pfennige, für die 144 Tage also, welche mir noch beschieden sind, 237 Mark und 60 Pfennige. Wenn diese Summe aufgebraucht sein wird, werde ich mich auf meine Chaiselongue legen und alsbald einschlafen. Um 5 Uhr 42 nachmittags wird ein durch Altersschwächen verursachter Herzschlag meinem Dasein ein Ende setzten.

Du, meine heiß-geliebte Gattin, treue Lebensgefährtin, Mutter meiner Kinder und Ahne meiner Enkel, wirst mich auffinden und an den Folgen des Schreckens, der dir in einem Alter nicht mehr zuträglich ist, in 2 Monaten, einer Woche und 5 Tagen, demnach am 8. Januar des kommenden Jahres, mir in die ewige Seligkeit folgen; dein Erbschaftsanteil ist dementsprechend bemessen worden.

Über die Begräbnisfeierlichkeiten findet ihr alles Nähere auf Seite 1698 bis 1727 dieses Programms. Das herrlichste Vermächtnis aber, das ich euch zu hinterlassen habe, ist der Hinweis auf meine Erdenlaufbahn, die ich glaube geführt zu haben im Sinne unseres seligen Onkels, Großonkels und Urgroßonkels Isaak.

Nehmt euch sein und mein Vorbild zu Beispiel und geht jetzt an eure Beschäftigung, wie ich an die meinige zu gehen gedenke, die ich mir vor zweiundsechzig Jahren in diesem Schweinslederbande vorgezeichnet habe.“

Der Alte schwieg, und in tiefer Rührung ging die Familie auseinander. Die Teilung der Erbschaft wurde in den hierzu im Programm bestimmten Stunden vorgenommen, und Samuel Ehrenmann sah ruhig und gefaßt, bei einem Geldverbrauch von 1 Mark 65 Pfennigen, seiner Auflösung entgegen. Die Geschichte verlief weiterhin schmerzlos und ohne sichtbare Merkmale.


gesamter Thread:

 

powered by my little forum