Re: Meine Mutter ist ein Messie (Angehörige)

Mario, Montag, 24.02.2003, 15:02 (vor 7732 Tagen) @ Mario

Hallo liebes Forum!

Erst mal vielen Dank für Eure Antworten und Gedanken bezüglich meinem Postings!!!
Ich kann leider nicht häufig ganz in Ruhe schreiben da mein PC so im Wohnzimmer steht daß jeder mitlesen kann, deshalb die Verspätung.

Dafür wird mein Beitrag diesmal wieder besonders lang!!!
Ich habe mir in den letzten Tagen viele Gedanken um das Thema gemacht und versinke zum ersten Mal nicht mehr in Depressionen. Obwohl ich niemandem ein Leben als Messie oder Angehöriger wünschen möchte, tut es gut zu hören daß andere aus eigener Erfahrung verstehen können was los ist. Hier versucht niemand eine krasse „Story“ zu hören, sondern ich habe viel Verständnis und Zuspruch von Euch bekommen. Vielen lieben Dank erst mal dafür!!!

Ich habe einige Links verfolgt und vieles über das Messietum gelesen. Viele Sachen kann ich bestätigen. Zum Beispiel lese ich immer wieder daß Messies meist Menschen sind, die sehr intelligent und auch in gewisser Weise sehr ordentlich und perfekt sind. Und das sie aufgrund dieses Perfektionismus einfach überfordert sind in der Erkenntnis, daß nicht alles perfekt zu erledigen ist.
Genau diese Feststellung habe ich an meiner Mutter gemacht. Sie war eine äußerst gute Schülerin, hat die ordentlichste Handschrift der Welt, und Joghurtbecher und Kiwischalen absolut perfekt und restlos zu leeren gehört zu ihren ausgeprägtesten Fähigkeiten. Sie konzentriert aber ihre Aufmerksamkeit aber nur noch auf Nebensächlichkeiten wie die obengenannten Joghurtbecher und sorgfältig geschriebene Einkaufszettel. Mit sowas kann sie sich wirklich stundenlang intensiv beschäftigen, statt einfach mal eine Ladung Wäsche in die Maschine zu schmeißen oder eine Tüte Altpapier wegzubringen.

Sehr interessant fand ich eine Beschreibung eines „Denknetzes“ (ich weiß schon gar nicht mehr wo ich das gelesen habe). Jede kleine Aufgabe zieht für einen Messie einen unüberschaubaren Wust an zusammenhängenden Aufgaben mit sich, und in Anbetracht dieser Überforderung ist es gar nicht mehr möglich, überhaupt irgendetwas zu tun.

Genauso kann ich mir das Denken meiner Mutter vorstellen. Ich glaube daß ich mich ziemlich gut in sie hineinversetzen kann, weil ich es ja schon immer so erlebe.
Ich selbst bin zwar nicht der Ordentlichste, aber ich habe Gott sei Dank keine Messie-Tendenzen. Im Gegenteil, wie ich auch schon in Beschreibungen andere Messie-Kinder gelesen habe, habe ich viele Sachen weggeworfen, worüber ich heute traurig bin. Zum Beispiel Aufzeichungen aus der Kinderzeit, Bilder und so weiter. Ich habe immer lieber Erinnerungen weggeworfen als sie zu sammeln weil ich auf keinen Fall ein solches Chaos aus alten Erinnerungen und Klamotten haben wollte.

Über den psychologischen Hintergrund war ich mir nicht ganz im Klaren. Ich hatte mir schon vorgestellt, daß meine Mutter selbst in einer aufgeräumten Wohnung in kürzester Zeit wieder das Chaos einkehren lassen wird. Ich konnte es mir nie anders erklären als daß sie das mit (böser) Absicht macht.
Zum Beispiel war mein Vater vor Jahren mal in Kur gewesen und ich hatte mit meiner kleinen Schwester die ganzen Osterferien damit verbracht, zumindest eine Ecke im Wohnzimmer freizulegen. Das war wirklich ein ganz schönes Stück Arbeit für zwei Kinder gewesen!!! Meine Mutter kümmerte das wenig, sie behandelte uns so als bauen wir uns eine Ritterburg aus Lego und half auch kein Stück dabei.
Sachen „entsorgen“ konnten wir natürlich auch nicht, weil das unsere Mutter verbot. Aber zumindest haben wir ein bißchen Ordnung reingebracht und man konnte wieder auf einem Wohnzimmersessel sitzen (den meine Schwester zuvor noch nie gesehen hatte).
Nachdem wir also einige Tage intensiv geschuftet hatten, hat meine Mutter am Vorabend bevor mein Vater zurückkam, Berge von Wäsche ins Wohnzimmer geschafft und alles wieder zugeräumt. Als mein Vater aus der Kur kam haben wir ihn ganz stolz ins Wohnzimmer geführt und er sagt nur: „Da ist ja gar nichts passiert.“.
Naja, er hatte ja recht, es sah genauso schlimm wie vorher aus. Aber wir hatten soviel gearbeitet und waren so stolz auf uns, und dann das!!!! Ich war so maßlos enttäuscht von beiden. Von meiner Mutter weil sie nicht mit einem Wort bestätigte, daß wir so hart gearbeitet hatten. Und von meinem Vater, weil er ganz genau weiß daß es eine unlösbare Aufgabe war.
Da kann man als Kind eigentlich nur glauben, daß die Mutter das mit böser Absicht tut.

Meine Eltern haben oft ihren eigenen Frust über die Situation an uns Kindern abgelassen. Zum Beispiel wenn sie uns bestrafen wollten mußten wir unser Zimmer aufräumen. Ihr wißt was eine Sisyphos-Arbeit ist? Der Typ der einen Stein auf einen Fels rollen soll, und immer wenn er gerade fast oben ist, rollt der Stein wieder runter und er muß von Neuem beginnen.
Genau das erlebten wir als Kinder wenn wir unser Zimmer aufräumen sollten. Wir hatten sowieso nicht viel Platz (ca. 15qm für drei Kinder), Wäschestapel aus Handtüchern und Bettwäsche, und die Schränke hat mein Vater mit seinen Büchern und Unterlagen besetzt (in allen anderen Schränken in der Wohnung wird ja Wäsche gelagert). Aufräumen bestand für uns Kinder also darin, alte Spielsachen möglichst unsichtbar zu verstauen da wir sie ja weder in Keller räumen, noch wegwerfen durften. Und die Sachen die wir noch brauchen, möglichst geschickt auf den Kisten und Kartons zu deponieren. Und wenn dann tatsächlich eine Ecke frei wurde, konnten wir sicher sein daß ein paar Stunden später ein neuer Wäscheberg dort stand. Und unser Kinderzimmer von nun an wieder einen Quadratmeter kleiner war.
Nachdem wir alle drei nun ausgezogen sind stehen übrigens immer noch die alten Kisten mit Spielsachen wie Bauklötzen und Bilderbüchern für Kleinkinder in unserem Zimmer. Daneben lauter Kartons mit Wäsche, und mein Vater hat sich einen Pfad freigehalten, der zu PC und Fernseher führt. Sitzen kann da immer nur einer.

Ihr habt mehrfach gefragt was denn mein Vater tut.
Ich weiß daß er immer nur geschimpft hat und ich eigentlich auch seit ich klein bin höre, daß „eines Tages alles rauskommt und dann wird renoviert und dann wird die Wohnung richtig schön.“. Früher habe ich mich tatsächlich auf diesen Tag gefreut und mir immer vorgestellt wie schön es wird, endlich mal meine Freunde einzuladen. Aber wenn man das mal 20 Jahre gehört hat ohne das was passiert, glaubt man das auch nicht mehr.
Mein Vater hat oft versucht aufzuräumen. Es endete jedesmal mit einem riesigen Krach mit meiner Mutter, er durfte grundsätzlich gar nichts wegwerfen, weder alte Anzüge aus den 70ern (die schon lange nicht mehr passen und die man auch heutzutage absolut nicht mehr anziehen könnte), noch einige der alten Tüten aus dem Wohnzimmer mit einzelnen vergilbten Einkaufszetteln drin. Die könnte man ja noch brauchen!

Mein Vater hat sich für sich kleine Inseln geschaffen, so seine kaum zugängliche PC- und Fernsehecke, und ein bißchen Platz auf einem Tisch am Telefon, wo er wichtige Sachen wie Steuererklärung und so macht. Ansonsten steht er in der Wohnung rum und wartet. Man kann sich ja nirgendwo mehr setzen.

Er redet immer noch davon daß er endlich mal richtig aufräumen will. Meine Mutter pflichtet ihm dann noch oft bei daß das eines Tages gemacht wird, aber dieser Zeitpunkt schiebt sich seit Jahren auf irgendwann in die Zukunft.
Ich glaube daß mein Vater sehr glücklich wäre wenn die Wohnung mal in Ordnung gebracht würde, aber er konnte sich die ganzen Jahre nicht durchsetzen.
Er tut seinen Teil, als er bis vor kurzem noch Vollzeit gearbeitet hat war er jeden Abend nach der Arbeit einkaufen, weil meine Mutter den ganzen Tag über keine Zeit dafür fand. Samstags hat er den Spülberg der Woche beseitigt, und das ist eine Menge bei einer fünfköpfigen FamilieJetzt wo er in Rente ist läuft das eigentlich genauso. Er macht die Dinge die regelmäßig anfallen wie Müll rausbringen, leere Flaschen, Altpapier, er spült und kauft ein. Aber für die Wäsche und das Putzen ist weiterhin meine Mutter zuständig, und sie schafft es nicht. Sie läßt dort aber auch niemanden ran sondern wird hysterisch wenn mein Vater zum dritten Mal in zwei Wochen nach seinem Hemd fragt.

Am letzten Wochenende war ich mit meinen beiden Schwestern zu Besuch bei meinen Eltern. Meine große Schwester hatte dort übernachtet und mal wieder die Gelegenheit genutzt. Als ich kam war der ganze Küchentisch freigeräumt und richtig schön gedeckt! Ich war mehr als erstaunt, aber dann erfuhr ich daß es mal wieder nicht zu mehr gereicht hat, als alles in Kartons zu stopfen und diese ins Wohnzimmer zu stellen. Damit meine Mutter die ganzen alten Einkaufszettel und sonstigen Zettelchen eines Tages durchsehen und ordnen bzw. wegwerfen kann. Was natürlich niemals passieren wird!

Ich habe versucht meinen Schwestern zu erklären daß ich Kontakt zu diesem Forum geknüpft habe und was ich hier erfahren habe. Sie wollten aber nicht richtig auf den psychologischen Aspekt eingehen. Ich glaube das liegt aber daran, daß die beiden auch noch genug damit zu kämpfen haben und zu schwach sind, das alles mit meiner Mutter „auf Gefühlsebene“ durchzukauen.

Beide setzen eher auf eine große Hauruck-Aktion, Mutter mal ein Wochenende wegschicken und dann loslegen. Aber so wie ich die Messies die sich hier zu Wort gemeldet haben verstanden habe, wird das doch eher zu einem Schock führen. Und das ursprüngliche Problem ist dann immer noch gelöst, sie wird dann ja nicht plötzlich anfangen, einen geregelten Ablauf im Haushalt einzuhalten.

Ich habe deshalb mal angefangen ein paar Texte zu sammeln, die ich meinen Schwestern weitergeben will. Vielleicht finde ich auch etwas was ich meiner Mutter zu lesen geben könnte. Aber bei ihr ist halt wirklich das Problem daß sie es nicht einsieht. Oder irgendwie doch, denn sonst würde sie sich ja nicht so aufregen bei jedem Versuch das Chaos zu bekämpfen. Aber sie besteht darauf daß sie das schon selber macht wenn sie mal Zeit dafür hat. Aber sie macht definitiv nichts, auch wenn sie statt dessen 6 Stunden lang rumsitzt. Außerdem ist meine Mutter nicht gerade gesellig und vertraut sich auch niemandem an, was in der Familie passiert bleibt auch da und wird nicht nach draußen getragen. Nicht mal ihre Brüder wissen Bescheid, und ihre eigenen Eltern hat sie jahrzehntelang nicht in die Wohnung gelassen (und sie sind mittlerweile leider tot).

Ich werde jetzt mal versuchen eine Selbsthilfegruppe in der Nähe zu finden (Raum Köln). Ich könnte mir vorstellen daß sie vielleicht durch ein unverbindliches Gespräch mit einer netten älteren Dame, die das gleiche hinter sich hat, führen könnte. Einfach mal darüber reden und vor allem feststellen daß sie nicht alleine damit ist.
Aber ohne ihre Bereitschaft geht das natürlich nicht, und das wird wirklich schwer.

Ansonsten vielleicht wirklich ein Therapeut, aber das sehe ich auch ziemlich schwarz. Ein Arztbesuch ist bei ihr auch immer ein riesiger Aufstand, wenn sie um 14.00h einen Termin hat springt sie ab 08.00h halb bekleidet in der Wohnung herum und rennt dann um 14.30h ungewaschen und ungekämmt los. Eine Therapie würde sie also auch stressen.

Ich denke also daß der Kontakt mit einer einzelnen und vertrauenserweckenden Person am sinnvollsten wäre. Oder vielleicht könnte ich mich einfach mal mit so jemand unterhalten.
Ich würde mich freuen wenn irgendjemand von Euch einen Ansprechpartner kennt oder die Kontaktadresse einer Selbsthilfegruppe. Ich schaue natürlich auch schon die ganze Zeit im Netz, aber ich bin zur Zeit ein bißchen überfordert mit den Mengen an neuen Informationen und Denkanstößen.

Mit meiner Partnerin habe ich noch nicht darüber gesprochen, aber ich kann mir mittlerweile vorstellen daß ich es tun werde. Ich brauche aber eine gute Gelegenheit, das möchte ich nicht zwischen „Tür und Angel“ sagen. Ein bißchen Angst habe ich daß sie sauer darüber ist, daß ich ihr bisher nicht vertraut habe. Aber vielleicht kann ich ihr erklären wie sehr mich das alles belastet seit ich denken kann, und daß sie dann tatsächlich der erste Mensch ist, dem ich von Angesicht zu Angesicht sagen werde was mich so quält.
Ich verändere mich ja nicht dadurch, aber andere Dinge werden anders. Ich glaube daß sie meiner Mutter dann nur noch mit Vorbehalt begegnen kann, durchaus menschlich. Und auf jeden Fall werde ich dann meinen Eltern sagen daß sie es weiß, obwohl es ihnen äußerst unangenehm sein wird.

Danke auch Christian für Deinen Beitrag. Du rätst mir zwar mich vollkommen von meiner Mutter zu lösen und ich kann das auch gut verstehen. Aber irgendwie hoffe ich immer noch daß ich eines Tages eine richtige Familie habe, eine Oma und einen Opa die auch mal das Kind nehmen können, Kaffeetrinken mit der ganzen Familie im Wohnzimmer meiner Eltern.... Das ist das was ich mir wünsche seit ich begriffen habe, daß bei uns etwas ganz gewaltig schief läuft.
Ich liebe meine Mutter und meinen Vater, ich habe zwar gleichzeitig auch viel Haß in mir wegen diesem ganzem Mist, aber ich könnte alles vergessen wenn es endlich zu ende wäre! Ich will nicht daß die beiden weiter im Müll leben und im Müll sterben. Ich will nicht eines Tages einen Anruf bekommen und innerhalb von ein paar Tagen den ganzen Kram aus der Wohnung schaffen müssen, weil einer gestorben ist und er andere ins Heim kommt. Man kann ja eigentlich nicht mal einen Notarzt in die Wohnung lassen!

Außerdem glaube ich daß zumindest meine Mutter in eine Einrichtung überführt würde, wenn das Problem von offizieller Seite (z.B. einem Notarzt) erkannt wird. Und das wäre sicherlich ein Trauma für sie, wenn dann ein paar Möbelpacker ihre Sachen aus der Wohnung direkt zur Müllkippe transportieren und dabei bestimmt auch genügend Sprüche fallen lassen.
Es wäre doch einfacher für sie, wenn sie sich am besten heute noch von ihrem Mann und ihren Kindern helfen ließe!!!

So ich mach für heute mal Schluß damit ihr meine Antwort noch lesen könnt.
Ich melde mich bald wieder um Euch zu erzählen wie es weitergeht. Und ich freue mich weiterhin über Zuspruch und Erfahrungsberichte! Besonders interessiert bin ich daran, Kontakt zu Betroffenen oder Angehörigen zu knüpfen.

Viele Grüße von
Mario


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