Re: Wieso Deine Angst vor der Waage? (Achtung, lang und sehr persönlich) ((M)Essies)

Schlumpfine, Mittwoch, 21.04.2004, 12:32 (vor 7320 Tagen) @ Odille

Liebe Odille,

die Frage ist gut ... warum fürchte ich mich vor der Waage ...

Nachdem ich ungefähr ¾ meines Lebens in dem Wahn verbracht habe, dass mein Körpergewicht unmittelbar etwas über meinen Wert als Mensch, über meine Weiblichkeit, über meine Attraktivität und meine Berechtigung, zu lieben, geliebt zu werden und mein Leben zu genießen aussagt, ist die rationale Einsicht, dass diese Schlussfolgerungen unlogisch, unwahr und gefährlich sind noch lange nicht gleichbedeutend damit, sie loszulassen.

Dick = hässlich
dick = undiszipliniert
dick = dumm
dick = Versager(in)
dick = gefräßig
dick = unersättlich
dick = krank
dick = unweiblich
dick = nicht liebenswert

und die dazugehörigen Umkehrschlüsse

Schlank = schön
schlank = diszipliniert
schlank = klug
schlank = erfolgreich
schlank = Genießer(in)
schlank = zufrieden
schlank = gesund
schlank = weiblich
schlank = liebenswert

waren die jahrzehntelang die Kernthesen meines Wertesystems. Es sind Grundüberzeugungen, die den Umgang mit mir selbst ebenso wie mit meinen Mitmenschen geprägt haben. Meine Gedanken, Gefühle, Gewohnheiten und unendlich viele Einzelentscheidungen, die ich tagtäglich - teils bewusst, teils unbewusst - treffe, werden von diesem zutiefst eingeprägten Wertesystem ständig beeinflusst.

Meine beiden "Bordwaffen" gegen dieses kranke Sytem, das (wie Du zutreffend beschrieben hast) durch Frauenzeitschriften, Werbespots und die gesamte Alltagskultur, die unsere weibliche Identität mitprägt ständig vervielfältigt und verfestigt werden kann (wenn wir uns darauf einlassen), sind erstens die von Eva im Messie-Forum zitierte "innere Stimme, die uns sagt, was gut für uns ist" und zweitens mein Verstand, der mir die Ohren zuhalten kann, damit mein Herz besser hinhören kann, was diese innere Stimme mir zu sagen hat. Unterstützt werde ich bei diesen "Hörübungen" von meiner ambulanten Psychotherapeutin und von den Therapeuten der Klinik, in der ich vor gut einem Jahr war.

Meine innere Klarheit ist noch nicht stabil genug, dass ich eine Zahl auf der Waage als wertfreie Beschreibung eines Körpermerkmals (wie "brünett" oder "blaue Augen" oder "Schuhgröße 38") hinnehmen kann. Das Gewicht gehört eindeutig in die Kategorie der Körpermerkmale, an denen ich (wie unzählige andere Menschen) meinen Wert als Mensch, als Frau festmache (etwa so wie "gepflegte Fingernägel", "makellose Zähne", "glatte Haut", "glänzende Haare", "dezenter Duft", "melodische Stimme" und ähnliches).

Fakt ist, dass ich als Mensch vom ersten Augenblick meiner Existenz an
... mich willkommen fühlen darf, in dieser Welt.
Ich bin berechtigt, zu leben. Mit demselben Recht, das alle anderen Kreaturen auch haben - unabhängig davon, ob der eine oder die andere das ebenso sehen. Wenn jemand etwas gegen meien Existenz hat, darf ich seine BEstrebungen als Unrecht ansehen und mich dagegen wehren.

... Bedürfnisse habe.
Sogar leblose technische Systeme benötigen etwas für ihren Stoff-, Energie- und Informationsumsatz. Lebewesen sowieso. Und ich als Mensch habe spezifisch menschliche Bedürfnisse, die meinen Mitmenschen ermöglichen, mir ihre Liebe zu zeigen. Bedürftigkeit ist nichts, wofür sich ein Lebewesen schämen muss. Die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und für deren Befriedigung Verantwortung zu übernehmen und diese Befriedigung auch anderen Kreaturen zuzugestehen ist ein Merkmal menschlicher Reife. Neugeborene Menschen und Tiere sind darauf angewiesen, dass ihre Artgenossen ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne dass sie selbst aktiv etwas dafür tun.

... darauf angewiesen bin, meinen Artgenossen und dem Universum an sich zu vertrauen.
Dieser Glaube daran, dass gut für mich gesorgt ist, ist die Basis aller lebenserhaltenden Beziehungen.

... berechtigt bin, anzunehmen, was ich brauche und was mir liebevoll gegeben wird.
Ich muss mich dafür nicht rechtfertigen und nicht für dieses Recht kämpfen. Es ist mir angeboren.

... fühlen kann, was ich brauche, was mir fehlt, was mir gut tut.
Die Kraft meiner Gefühle ist lebenserhaltend. Ich darf sie nutzen. Meine Angst-Kraft. Meine Wut-Kraft. Meine Freude-Kraft. Meine Liebes-Kraft. Meine Gefühle schwächen mich nicht und sie zwingen mich nicht zu destruktiven Handlungen.

... liebenswert bin.
Ich habe das Recht, Liebe anzunehmen. Ich darf liebevolles Verhalten meienr Mitmenschen genießen. Ich darf selbst liebevoll sein. Meine Liebe ist wertvoll.

... gut genug bin, genau so, wie ich bin.
Ich muss mein Recht auf Leben, Liebe und Freude im Leben nicht erst durch übermenschliche Leistung verdienen. Ich bin Frau (oder Mann) genug. Ich bin auch dann gut genug, wenn andere das nicht wahrnehmen können. Ich bin ein Geschenk des Lebens an sich selbst. Das reicht. Das gilt für alle Kreaturen in diesem Universum - und selbstverständlich auch für mich.

... zuerst für mich selbst sorgen muss.
Ich stehe für mich an allererster Stelle. Erst wenn ich genug habe, kann ich für andere dasein. Aus einem trockenen Brunnen kann niemand schöpfen.

... selbst für mich verantwortlich bin.
Schon ein Baby kann zeigen, wann es müde ist und schlafen will und wann es munter ist und lernen will. Wann es satt ist und wann es Nahrung braucht. Ob ihm zu warm oder zu kalt ist. Ob es zu bestimmten Menschen Körperkontakt sucht oder andere ablehnt. Ob es Schmerzen hat oder fröhlich ist. Es kann diese Beürfnisse nicht allein befriedigen, aber es kann selbst spüren, was es braucht und deutlich machen, wann es genug hat. Diese Verantwortung hast Du für Dich und ich habe sie für mich - auch wenn Du auf meine und/oder ich auf Deine Hilfe angewiesen bist/bin. Kein Mensch kann sich selbst auf den Arm oder auf den Schoß nehmen.

... über die Welt und mich selbst darin nachdenke.
Ich mache mir ein Bild, das sich ständig ändern kann. Das ist gut so. Meine Gedanken und meine Phantasien geben mir Kraft, die ich nutzen kann. Oft verwende ich diese Kraft gegenmich, weil bestimmte Erfahrungen mich an den o.g. Fakten zweifeln lassen. Dann kann ich mit Hilfe meiner Erfahrung, meines Wissens, meiner Klugheit und im Austausch mit anderen dafür sorgen, dass ich diese Wahrheiten wieder erkennen kann.

Liebe Odille,

eine Erfahrung die ich gemacht habe, ist, dass ich auf Gewichtsverluste geradezu panisch reagiert habe und im vollen Bewusstsein, mir selbst körperlich zu schaden, jedes Kilo wieder brauchte, bevor ich erneut zur Ruhe kam. An dem Thema arbeiten meien Therapeutin und ich derzeit.

In den vergangenen 12 Monaten habe ich zuerst (über einen Zeitraum von etwa acht Monaten) 13 kg abgenommen. Anschließend habe ich alles wieder zugenommen und wiege jetzt exakt soviel wie vor der Reha.

Die "Ermittlungsrichtung" in meiner Therapie geht derzeit in Richtung "Will ich mein Gewicht halten oder will ich ins Beuteschema der 'bösen Onkels' passen?" Ich komme immer wieder (das erste Mal in der Reha vor einem Jahr) an Erinnerungen von gewalttätigen (teilweise sexuellen) Übergriffen. "Dick = Hässlich" bzw. "Dick = Unweiblich" sein scheint meine Seele etwas vor dem grauenhaften Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins zu schützen.

Das Auf-und-Ab schadet mir sicher noch mehr, als ein stabiles Gewicht auf hohem Niveau. Solange ich diese Angst nicht spüren kann, sondern nur die kindlich-hilflose Erstarrung/Lähmung/Handlungsunfähigkeit erlebe, kannichmeinen Schutzpanzer, meine Rettungsringe nicht loslassen. Ich glaube, dass ich noch einen schmerzhaften Weg durch manches "Tal der Tränen" vor mir habe, bevor ich meine Seele davon überzeugen kann, auf den Speckpanzer zu verzichten.

Und solange werde ich auf erschreckende Zahlen, die etwas über die Stärke des Panzers aussagen könnten, vermeiden.

Wenn ich realistische Vergleichszahlen und eine stetige Gewichtsabnahme wieder vertragen kann, werde ich mich wieder einmal im Monat (4-10 Tage nach Beginn meiner Periode) wiegen. Tägliche oder wöchentliche Wiegungen sind meiner persönlichen Meinung nach für Frauen im fruchtbaren Alter wenig aussagekräftig. Das Wasser im Körper einer fruchtbaren Frau geht wie Ebbe und Flut mit den Hormonen - und diesen lebendigen Rythmus würde ich ungern durch Gedanken und Gefühle, Sorgen, salzarme Diäten oder andere seltsame Einflüsse stören. Das ist wie gesagt meine persönliche Meinung, da ich immer noch leicht durch Zahlen auf dem Messgerät in meiner inneren Stabilität zu stören bin.

Die Gelassenheit zu sagen: "X kg. Das sind Y Kilo mehr bzw. weniger als gestern. Na und? Wen stört's?" habe ich noch lange nicht.

Danke für Deine ausführliche Rückmeldung, liebe Odille.

>Hab Geduld!!! Du strahlst mit Deinen Postings so viel Lebensfreude und Energie aus (grad im Messie-Forum) - ich glaub fest daran, daß Du Dein Gewicht auch noch in den Griff kriegst und nicht umgekehrt.
[quote]Ganz liebe Grüße an Dich [image] von Odille[/quote]

Und danke, dass Ihr mich in meinem Glauben an mich selbst bestärkt, liebe Kao und liebe Odille. Klamotta ist ja ach nicht davon abzubringen und unterstützt mich, wenn ich selbst an mir zweifle.
Liebe Grüße

Schlumpfine [image], die sich heute noch nicht gewogen hat [image] und auch nicht vorhat, sich damit den schönen Tag zu verderben.


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