Re: nichts als etwas Besonderes einordnen (lang) (Allgemein)

Löwenzahn, Freitag, 06.05.2011, 12:06 (vor 4747 Tagen) @ Schlumpfine

Liebe Schlumpfine,

vielen Dank für dieses Posting. Es stößt dies und das bei mir an als Resonanz.

Das "alle anderen schaffen das doch auch, also müsste ich das auch hinbekommen", das kenne ich gut. Bei mir unter anderem auch mit dem Wissen im Hintergrund "Ich habe mehr Begabungen als viele" und daraus resultierend seit jeher dem dumpfen Anspruch "ich müsste doch mindestens genausoviel auf die Reihe kriegen wie jeder andere auch".

Während ich gleichzeitig immer sah, wie wenig es tatsächlich bis zur Ausführung schafft, was in Kombination mit diesem und jenem dazu geführt hat, dass mir der Doc letztes Jahr 'ne Depression bescheinigt hat. Das kommt mir zwar, wenn ich anderswo lese, wie tiefschwarz Depression sein kann, als vielleicht viel zu schweres Wort für einen bei mir maximal grau-lila Zustand vor, aber das ist ja letztlich wurscht.
Es hat jedenfalls dazu geführt, dass ich das ewige "ich will versuchen, es allein / nur mit Hilfe von Freunden zu schaffen" endlich aufgegeben habe. Und dass es mir inzwischen in vieler Hinsicht besser geht als über Jahre davor, wo mein Wohlbefinden und Selbstwertgefühl immer direkt gekoppelt war an das, was ich aktuell so schaffe.


Das scheinbar ganz Trivialste und doch Schwerste, was ich in der Therapie gelernt habe: Es gibt Dinge, die kann ich einfach nicht gut. Und zwar, obwohl sie für andere Menschen eine Selbstverständlichkeit sind. Und in diesen Dingen muss mich nicht an dem messen, was andere Leute auf die Reihe bekommen.
Ich muss mir z.B. nicht jedesmal wieder wie ein Versager vorkommen, wenn ich für immer dasselbe immer wieder länger brauche als jeder "normale Mensch".

Ich darf mich da abholen, wo ich stehe mit meinen Fähigkeiten.

Das heißt nicht, dass ich den Stand der Dinge hinnehme oder gut finde, wie er ist. Ich wäre immer noch gern schneller, besser, höher, weiter. Es deprimiert immer noch, wenn ich unsere beiden Semesterersten so durchs Studium sausen sehe. Aber ich mache mich nicht mehr so sehr klein dafür. Denn ich entwickele mich auch nach vorne, und das ist das, womit ich mich vergleichen darf. Ich muss mich nicht mit unrealistischen Ansprüchen an das, was gehen "sollte" fertig machen, sondern darf es mit dem vergleichen, wie es bei mir früher war.
Auch wenn mich meine Liebsten da immer noch mit der Nase drauf stoßen müssen, weil ich es so schwer finde, zum Beispiel die total durchwachsenen Noten im Studium als Erfolg zu sehen. Als Erfolg zu sehen, dass ich immer noch dabei bin und, wie es aussieht, auch endlich mal wieder etwas zu Ende führen werde. Obwohl es etwas ist, was mir mit meinen Schwächen eigentlich nicht genug äußere Struktur vorgibt.


Ich schweife total ab [image] , und eine Antwort ist dies kaum noch ... dafür ein mir-mal-wieder-bewusst-machen.

Jedenfalls klingt, wenn ich Deinen Text lese, sehr durch, dass Dein Weg aus dem Mess Dich schon unglaublich weit geführt hat, auch wenn "Otto-Normal-Cleanie" dafür eine Wahrnehmungsstörung hat.    [image]


Es assoziiert gerade frei vor sich hin bei mir im Hirn (das kann lang werden...), und beim Thema Cleanie fällt mir meine beste Freundin ein:
- Mit sich selbst in ihrer eigenen Wohnung manchmal fast zwanghaft ordnungsliebend und -bedürftig.
- Unglaublich gut funktionierend und Dinge angehend, selbst wenn ihr Leben sie eigentlich gerade erschlägt.
- Mit einem Chaos-Liebsten, der neben seinem Sammlertum dieselben Handlungsblockaden hat, wie ich sie von mir kenne und wie sie sicher viele hier, aber wohl nicht alle haben.

Die sagte neulich: Es war ihr früher gar nicht klar, dass das, was ihr so nebenher von der Hand geht, für andere vielleicht was Bewunderungswürdiges oder im schlimmeren Fall vielleicht auch etwas Frustrierendes sein kann - das ist ihr erst durch meine Wahrnehmung von ihr und die Beschreibung meiner eigenen so oft vorhandenen (verhassten) Lähmungen bewusst geworden.


Deine Beschreibung von Wolfgangs Satz als Vorwurf ist mir sehr aufgefallen, und zwar, weil ich auch sehr heftig über dieses "nichts besonderes" gestolpert bin & schlucken musste - so heftig, dass ich erstmal eben nicht eine sachliche Antwort schreiben konnte darüber, warum diese "Kleinigkeiten" in einer anderen Wahrnehmung und einer anderen persönlichen Wahrheit sehr wohl etwas ist, was man als Leistung wertschätzen kann. Und ohne den Anstoß Deines Postings, das mich meinen persönlichen Abstand hat wiederfinden lassen [image] , hätte ich auch wahrscheinlich gar nichts dazu geschrieben.
Und dabei weiß ich doch gar nicht, ob es tatsächlich ein "Vorwurf" ist. Der Verstand sagt mir, dass es wahrscheinlich eher ein Unverständnis aus einer anderen Lebenswirklichkeit heraus ist. Und meine Erfahrung sagt, dass dieser Satz lediglich meine persönliche Unzufriedenheit mit meinen Schwächen und damit mein eigenes Rechtfertigungsbedürfnis triggert.

Obwohl ich solche Dinge doch kenne und bei anderen auch entschuldigen kann. Wenn jemand anderes etwas nicht kann, was mir leicht fällt, kann ich (inzwischen) relativ oft sagen: "Naja, die Begabungen sind eben verschieden". Oder: "Nicht so schlimm, Fehler passieren halt". Bei mir dagegen fällt mir das unglaublich schwer

Was Offenheit und Hilfe annehmen angeht, hab ich extremes Glück gehabt, dass sich mein Freundeskreis in den letzten paar Jahren erweitert hat um Menschen, bei denen es mir von Anfang leichtfiel, offen zu sein, vor allem der Wärme wegen, die sie ausstrahlen, glaub ich. Das hat es mir auf meinem Weg aus alten Schneckenhaus-verkriech-Mustern sehr viel einfacher gemacht. Und führt dazu, dass ich das zumindest partiell auch in andere, eingefahrenere Beziehungen übertragen kann.

Und Hilfe geben war für diese Freunde etwas, was so selbstverständlich zum Leben dazu gehört, dass ich die Hilfe auch annehmen konnte, fast ohne mir klein vorzukommen. Zu Beginn der Freundschaft hatte ich noch sehr das Bedürfnis nach "sagt Bescheid, wenn ich Euch was helfen kann". Das Bedürfnis, Umzugshilfe mit Renovierungshilfe zu vergelten. Das hat aber nur einmal wirklich geklappt, und mein schlechtes Gewissen hat sich ein ganzes Weilchen gehalten. Inzwischen kann ich ihnen, weil es sich gerade so ergibt, meinerseits etwas ganz anderes zurückgeben, was sie sehr brauchen können, und was mir relativ leicht fällt. Ich bin um diese Möglichkeit sehr froh. Aber wenn nicht, wäre es auch ok. Mittlerweile.


Im Beruflichen geht mein letztjähriges Therapiebedürfnis niemanden etwas an, und ich halte mich da extrem bedeckt. Aber zum Beispiel meinen Eltern gegenüber (für die es z.B. total unverständlich ist, dass man nicht einfach seine Arbeit tut), und auch im weiteren Freundeskreis hab ich es von Anfang an jedem erzählt. Bei uns zuhause war und ist "funktionieren" irgendwie ein ganz wichtiges Kriterium, und das tut man einfach, egal, wie es einem geht.

Dadurch, dass meine Eltern im Moment sehr viel von meinem Leben mitbekommen (ich bin oft dort), sehen sie:
Einerseits: Ich gebe mir Mühe!
Und andererseits: Ich "versage" trotzdem oft. Ich brauche professionelle Hilfe, damit es mir zumindest gut geht (Therapie: Etwas, was man bei uns eher "nicht tut" / nicht für nötig hält, Stichwort "funktionieren" und "sich nicht so anstellen / wichtig nehmen". Und was doch unerklärlicherweise (für meine Eltern) alle meine Geschwister teils mehr, teils weniger brauchten. Und was ich gerade deshalb gerade den Eltern gegenüber ziemlich offensiv vertreten habe).
Und doch kann ich nicht immer "einfach tun", was nötig wäre.

Das hat ganz erstaunlicherweise dazu geführt, dass alle beide, sogar meine Cleanie-Mutter, die eh so ganz verschieden ist von mir (ich sehe eher noch Ähnlichkeiten als sie), zwar immer noch nicht verstehen, aber doch zumindest meist anerkennen können, dass ich nicht einfach "faul" bin. Dass ich mich an meinem so-sein auch aufreibe. Dass ich kämpfe, auch wenn das Ergebnis vielleicht nicht "normalen Ansprüchen" genügt.

Sie verstehen es nicht, aber sie sehen es manchmal, und das reduziert die Vorwürfe erheblich (und wenn es nur die gefühlten sind, das muss ja gar nicht offen ausgesprochen sein). Und ist manchmal ein ganz wunderbares Gefühl, macht mich sehr dankbar und erlaubt mir eine Entspanntheit, die ich nie hatte, als ich einfach meine Eltern nicht in meine Wohnung gelassen habe und ansonsten nach außen so getan hab als wäre alles ganz prima, wenn ich mich einfach nur ein bisschen zusammenreiße (alles völlig unproduktive Wörter aus meiner Hassliste [image] ).

Weia, ich glaub, der Sermon ist lang genug geworden...


Ich wünsch Dir tägliche Triumphe des Stolzes auf Erreichtes über die niederdrückenden Erwartungen an "normal"!

(Und muss mich jetzt endlich wieder meinen eigenen Lähmungserscheinungen widmen... [image] )


Liebe Grüße,
           [image]
<font size="+2"><font face="Comic Sans MS">Löwen<font color="CC0000">zahn</font></font></font>


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