Re: Stimme Euch beiden zu ((M)Essies)

Schlumpfine, Freitag, 31.12.2004, 00:18 (vor 7066 Tagen) @ krimhild

Und: ja, genau das würde ich auch zu einem Alkoholiker sagen! Auch er hat die Wahl. Immer wieder, in jedem Augenblick. Dass diese Wahl immer leicht fällt, habe ich nie behauptet. Nur, dass die Möglichkeit, zu wählen, immer da ist.

Hier stimme ich Dir 100% zu, liebe Krimhild.

>Ich kenne viele Alkoholiker, die genau so argumentieren wie Du. Die aus einem Rückfall einen heftigen Absturz "bauen", in der Vorstellung "jetzt hab´ich eh´versagt, jetzt kann ich auch nochmal meine positiven Suchtaspekte genießen, denn den Absprung schaff´ich sowieso erst wieder in X Monaten, so ist das eben!" Und so ist das eben ganz und gar nicht! Denn es gibt auch andere Beispiele, oh ja. Aber es ist einfach leichter, für längeres Rückfälle allein die Biochemie verantwortlich zu machen. So einfach ist das zum Glück auch wieder nicht!

Stimmt, denn sonst wäre jede Form der Suchttherapie aussichtslos. Exakt das ist das Ziel erfolgreicher Suchtbehandlung: Dem/der Süchtigen zu der Einsicht zu verhelfen, dass er oder sie selbst in jeder Situation die Wahl hat, sich für das Leben, die Gesundheit und die Freiheit - oder dagegen und somit für die Sucht zu entscheiden. Und dass niemand ihm oder ihr diese Entsheidung abnehmen kann. Diese Erfahrung kann kein Mensch einem anderen 'erklären' oder 'beibringen', aber erfahrene Therapeuten können in einer Klinik oder in ambulanter Therapie Menschen, die sich auf die Vorschläge, etwas anderes auszuprobieren und/oder konkrete therapeutische Aufgaben einlassen, Erfahrungen und Erkenntnisse ermöglichen, die einen Ausweg aus dem kranken Denken der Sucht und der erlernten Hilflosigkeit gegenüber dem Suchtdruck erlauben. Es hängt vom Mut und von der inneren Kraft jedes einzelnen ab, ob er bzw. sie diese erkannten Auswege dann nutzt.

>Disposition allein bewirkt nicht viel, sie unterstützt aber das "positive Suchtempfinden", macht, dass sich Sucht in dem Moment gut anfühlt.

Genauso isses.

>Und das ist halt das Fatale: es gibt ein winziges Eckchen, in dem (Eß-)Sucht auch trotz tiefster Verzweiflung noch positive Gefühle vermittelt.

Klar - sonst wäre der Suchtdruck nicht so verführerisch.

>Und die wollte ich selbst lange nicht aufgeben, aber sicher ist das wieder nur bei mir allein so - ihr könnt Eurer Abhängigkeit sicher überhaupt nichts Positives abgewinnen, stimmt´s?

Doch, da triffst Du eine ganze Serie von wunden Punkten bei mir.

>Mal die ernsthafte Frage: meint Ihr, wenn Ihr nie wieder Nahrungsmittel mit Zucker/Weißmehl verzehren würdet, wäre Eure Eßsucht beendet?

Mein Suchtgedächtnis wird diese Erfahrungen nie mehr vergessen. Ich sehe da wirklich Parallelen zum Alkoholismus: Auch wer 80 Jahre lang "trocken" lebt (d. h. im Sprachgebrauch der Anonymen Alkoholiker, dass jemand keinen Alkohol zu sich nimmt), bleibt er Alkoholiker und somit gefährdeter, als ein Mensch, der diese Disposition nicht hat. Genauso erlebe ich meine Esssucht. Sie bleibt mir latent erhalten - egal wie lange ich die Stoffe vermeide, die bei mir den Essdruck außer Kontrolle geraten lassen. Und es wird in mienem Leben immer Situationen geben, in denen ich gefährdet bin. Mir ist auch klar, dass es meine Entscheidung war, in die Keksdose zu langen - ebenso, wie es vorhin meine Entscheidung war, die Kopfschmerzen nicht länger auszuhalten und sie mit Junk Food rasch und wirksam zu beenden. Ich hätte mich auch entscheiden können, auf die Teilnahme and er Familienfeier zu verzichten, die Schmerzen weiterhin mit viel Wasser, Ruhe, Bewegung an der frischen Luft und Geduld zu ertragen und darauf zu warten, dass sie heute abend, morgen früh, übermorgen oder nächste Woche weggehen und ich meine Freiheit vom Esszwang zurückerhalte. Ich hatte die Wahl und habe sie jeden Tag aufs neue - nur das süchtige, kranke "Jetzt ist es sowieso egal."- bzw. "Alles oder Nichts"-Denken und der "Morgen (Übermorgen, nächste Woche, im Neuen Jahr) werde ich es schaffen."-Selbstbetrug suggerieren mir etwas anderes.

>Gruß,
[quote]die sich wie häufig unverstanden fühlende
krimhild
[/quote]

Liebe Krimhild, ich danke Dir, dass Du nicht aufgibst, Deine Einsichten hier zu vermitteln und wünsche mir von Dir - falls das nicht zu persönlich wird - Deine Erfahrungen beim Weg aus der aktiven in die latente Essucht.

Liebe Helga-Maria, danke dass Du versucht hast, mir beizustehen.

Tatsächlich widerspricht Krimhilds Aussage "Zucker ist nicht die Wurzel allen Übels - Zuckersucht ist "nur eine", nicht "die einzige" Form der Essucht. Die Ursachen süchtiger Verhaltensweisen und stofflicher Abhängigkeiten sind immer vielschichtiger als eine monokausale Erklärung nach dem Muster "Wer zuviel XXX zu sich nimmt, wird zwangsläufig XXX-süchtig. Wieviel XXX zuviel ist, hängt dabei von der genetischen Austattung des einzelnen XXX-Süchtigen bzw. Nicht-XXX-Süchtigen ab."

Es gibt zu diesem Thema einige interessante Bücher - das älteste und dünnste, das ich selbst gelesen habe, heißt "Nicht die Droge ist's" und beschreibt, wie unterschiedliche Deutungen, Denkgewohnheiten, Verhaltensweisen und Annahmen bei unterschiedlichen Menschen zu verschiedenen Wegen führen, das Leben mit seinen Herausforderungen und Genüssen in allen Lebenslagen mehr oder weniger erfolgreich zu bewältigen - mit (bzw. ohne) stoffliche(n) oder nichtstoffliche(n) Abhängigkeiten. Das Problem z. B. des sog. Alkoholikers sei eben nicht die Substanz Alkohol, sondern die Art und Weise, wie der Kranke - im Gegensatz zum Gesunden - diese Substanz missbraucht, um der Realität auszuweichen und die Verantwortung für sich selbst nicht zu übernehmen. Ein sehr, sehr lesenswertes Buch, finde ich - auch wenn ich im Moment Lichtjahre davon entfernt bin, diese Theorie in die Praxis umzusetzen.

Und dass ich so weit davon entfernt ist, liegt nicht nur am Zucker, sondern in erster Linie an meinem kranken Denken und Fühlen "Ich schaffe das sowie nicht." "Es hat eh keinen Zweck." "Jetzt ist es auch egal." "Ich bin ein hoffnungsloser Fall." usw. usf.

Krimhilds Hinweise darauf, dass ich solche biochemischen Wirkungen doch bitte nicht als Vorwand nutzen soll, die Verantwortung für meine Gesundheit und mein Wohlergehen aufzugeben, stehen für mich nicht im Widerspruch zu meinen Aussagen, wie bestimmte Substanzen auf meinen Körper, meine Gefühle und mein Denken wirken.

So wie es im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit oft möglich ist, dass ein Teil des Trinkers seine euphorischen oder hirnrissigen oder weinerlichen Ideen als Folgen des Alkoholgenusses erkennt und weiß, dass er im nüchternen Zustand wieder anders darüber denken wird, so haben Krimhilds nüchterne Einwände mir ebenso wie Eure ermutigenden Erinnerungen an das, was ich in der Vergangenheit bereits geschafft habe, klargemacht, dass das kranke Denken ebenso ein Symptom der Sucht ist, wie die Gier nach mehr und ide unvermeidliche Gewichtszunahme - und dass ich gut daran tue, diesen Gedanken nicht mehr Bedeutung zuzugestehen, wie meinen Ideen zur Rettung der Erde, die ich habe, wenn ich mehr als die mir zuträgliche Mengen Alkohol im Blut habe. Für mich ist hier beides hilfreich.

Danke, dass Ihr alle Euch bis jetzt schon soviel Zeit für diesen Austausch genommen habt - in schriftlicher Form kann ich die verschiedenen Argumente besser sortieren, als wenn sie in meinem suchtvernebelten Hirn Karussel (oder Achterbahn???) fahren.

Gute N8!

[image] Schlumpfine


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