Re: Herzlichen Glückwunsch, liebe Fatima! ((M)Essies)

Schlumpfine, Sonntag, 01.08.2004, 11:48 (vor 7214 Tagen) @ Fatima

>Also ich weiß nicht -
[quote]irgendwo versteh ich euch nicht!?
[/quote]

Darum beneide ich Dich glühend, liebe Fatima!

i>>Hattet ihr nie so was wie eine natürliche innere Abneigung gegen das MäckiZeug?
Langsam wird mir bewusst, dass ich meiner Mutter wohl wirklich sehr dankbar sein sollte. Ich bin aufgewachsen mit bayerischer Hausmannskost, mit täglich Gemüse, Salat und Obst (frisch, eingemacht oder TK) aus dem eigenen Garten (meine Mutter ist gelernte Gemüsegärtnerin), mit frischem Brot und Semmeln vom Bäcker und Fleischwaren vom Bauern oder einer guten Landmetzgerei (manchmal auch Wild direkt vom Jäger).
Als ich das erste Mal mit meiner Freundin vor dem Kinobesuch in der nächstgrößeren Stadt einen Cheeseburger gegessen hatte, fühlte ich mich nach 'Genuss' desselben nicht wirklich wohl (da war ich 17). [/i]

Liebe Fatima,

worauf Eure Mutter Deine Geschwister und Dich geprägt hat, drei gesunde, frisch zubereitete Mahlzeiten am Tag, die Erwachsene - können auch Lehrer oder Erzieher sein - und Kinder gemeinsam und mit Genuß einnehmen, wird von den Experten in SuperSizeME ebenfalls als die einzig wirksame Gegenstrategie angesehen.

Das stärkt die Fähigkeit, das Junk Food mit wachen Sinnen als das wahrzunehmen, was es ist: wenig nahrhaft, wenig bekömmlich, wenig sättigend ... irgendwie unbefriedigend und deshalb anderen Speisen keinesfalls vorzuziehen.

Dein Beitrag untermauert diese Annahme in für mich vollkommen nachvollziehbarar Weise. Danke dafür! Als Mutter fühle ich mich jetzt sehr darin ermutigt, den Teufelskreis zu durchbrechen.

Diese Prägung habe ich selbst so nicht erfahren. Auch die innere Klarheit, meinen Wahrnehmungen zu trauen wurde mir sehr früh und sehr wirksam abtrainiert. Deshalb beglückwünsche ich Dich zu Deinem Unverständnis so wie Heroin- oder Alkoholabhängige Menschen beglückwünschen, die nie harte Drogen konsumiert haben bzw. kontrolliert und ohne Ausfallerscheinungen Alkohol genießen können.

Bisher habe ich von allen Experten, die Essgestörte behandeln, im Großen und Ganzen dies gehört und gelesen:

1. Esssucht gehört zu den prozessgebundenen Süchten (wie Glückspielsucht, Kleptomanie, Pyromanie, Arbeits-, Beziehungs-, PC- oder Fernsehsucht und möglicherweise auch das messietypische Vermeidungsverhalten), nicht zu den stoffgebundenen Süchten (wie Nikotin-, Koffein-, Tabletten-, Alkohol- oder Drogensucht).

2. Die einzige Ausnahme, die von wenigen Experten zögernd eingeräumt wurde: Kinder von Alkoholikern neigen wohl verstärkt zur Zucker- und Schokoladensucht, es scheint da Parallelen auf molekularbiologischer Ebene zu geben ... möglicherweise auch eine genetische Disposition. Diese Schokoholics - besonders wenn ein Elternteil oder beide alkoholkrank war/en - sollten Süßigkeiten und isolierte, leichtverdauliche Kohlenhydrate möglichst meiden.

3. Im übrigen gilt: Essucht ist ein psychisches Problem, ausgelöst durch frühkindliche Traumata oder andere psychosoziale Belastungen wie z. B. der allgemeine Diät- und Schlankheitswahn, der besonders heranwachsende Mädchen udn junge Frauen enorm unter Druck setzt.

4. Infolge der kranken Denk- und Verhaltensweisen folgen der Essucht körperliche Symptome, wie z. B. Wachstumsstörungen, vermehrter Haarwuchs und am Ende der Hungertod bei magersüchtigen PatientInnen, ein gestörter Mineralstoffhaushalt, angegriffene innere Organe und Zähne bei bulimischen PatientInnen und massives Übergewicht mit allen bekannten, lebensverkürzenden Risiken bei Binge Eatern, d. h. bei Menschen, die Essanfälle ähnlich wie BulimikerInnen praktizieren, ohne anschließend zu erbrechen, Abführmittel zu missbrauchen oder übertrieben Sport treiben bis zur Erschöpfung.

5. Die Einteilung in "gute" und "schlechte" Nahrungsmittel gehört zum kranken und krankmachenden Denken aller Essgestörten. Es gehört zu den Therapiezielen, die PatientInnen erfahren zu lassen, dass sie alles essen dürfen, was nicht verdorben ist oder Allergien auslöst. Die Idee, es gäbe "erlaubte" und "verbotene" Speisen wird von allen ExpertInnen für die Therapie von Essstörungen ausdrücklich verneint - Ausnahme: Schokoholics (s.o.) und Diabetiker sollten Süßwaren möglichst meiden.

6. Ein Einfluss bestimmter frei verfügbarer Nahrungsmittel auf die geistige Klarheit und das seelische Wohlbefinden wird ausdrücklich verneint.

7. Ziel der Behandlung ist es, dass die/der PatientIn alles in Maßen und nicht in Massen essen lernt, dabei selbst auf ihre Bedürfnisse und Wünsche angemessen reagiert und ihre Ernährung ebenso wenig wie ihr Wohlbefinden von den rigigen Diätvorschriften populärer Heilverkünder oder selbstgefundenen Essverboten einschränken lässt.

Nach dieser Definition der Essucht und der angestrebten Genesung wäre unsere liebe Airam immer noch sehr, sehr krank, weil sie statt des unkontrollierten Überessens nun dem obskuren MM anhängt. Mein persönlicher Eindruck ist jedoch ein anderer: Die Ernährungsumstellung, und ganz besonders der Verzicht auf Weißmehl und Zucker scheint sich auf Airams gesamtes Wohlbefinden, ihre Leistungsfähigkeit und ihr seelsiche Stabilität außerordentlich vorteilhaft auszuwirken. Liebe Airam, bitte widersprich mir, falls ich Dich hier missverstanden habe. Demgegenüber habe ich am vergangenen Dienstag im Kino einen Mann gesehen, der vorher in jeder nur denkbaren Hinsicht kerngesund war und nach wenigen Wochen, in denen er sich dreimal täglich an legal erhältlichen, frei verkäuflichen Speisen versuchte sattzuessen, messbare körperliche, geistige und seelische Symptome entwickelte. Das steht im völligen Widerspruch zum offiziellen Credo der Experten. Und doch kann ich es mit meiner Lebenserfahrung bestätigen.

Anfang 20 habe ich einen körperlich sehr anstrengenden Beruf ausgeübt und war glückliche Eigentümerin eines heißgeliebten Reitpferds. Ich bewegte mich viel und aß täglich 5000-7000 kCal um satt zu werden und mein Gewicht zu halten. Bei unter 5000 kCal war ich hungrig und nahm ab. Körperlich, geistig und seelisch habe ich diese Zeit als sehr gesund und stabil in Erinnerung. Zu den Dingen, die ich täglich verzehrte, gehörte auch Fast Food aus jeder nur denkbaren Richtung: McD ebenso wie Fritten&Currywurst, Pizza&Pasta, Döner, chinesisches und griechisches Fastfood. Ich aß das Zeug nicht ausschließlich, aber wesentlich häufiger als andere Menschen, die ich kannte und die im Büro arbeiteten und ihr Gewicht halten wollten. Außerdem kochte ich gerne und aß viel Obst, weil es mir schmeckte.

Mitte 20 - nachdem ich sechs Jahre wie oben beschrieben gegessen und mich bewegt hatte - begann ich ein Studium in einer knapp 50 km entfernten Großstadt. Ich pendelte täglich mit dem Zug aus meiner ländlichen Umgebung, wo ich mir meine 1-Zimmer-Wohnung und das Pferd weiterhin leisten konnte und wollte zur Uni und zurück. Rund um den Hauptbahnhof, wo ich täglich auf dem Hin- und Rückweg einige Viertelstunden Wartezeit verbrachte, ebenso wie rund um die Uni blühte ein reichhaltiges Angebot von Freßbuden aller Art. Diese Speisen (s.o.) hatte ich noch nie verschmäht und es bot sich an, die Wartezeit zur raschen Nahrungsaufnahme zu nutzen. Mein Sättigungsgefühl war seit Jahren auf mehr als 6000 kCal täglich "geeicht" und meine tägliche Bewegung beschränkte sich auf
- vom Bett ins Bad, in die Küche, zum Auto
- vom Auto zum Zug
- vom Zug durch den Bahnhof zur U-Bahn
- von der U-Bahn in den Hörsaal
- von einem Hörsaal zum anderen (der Campus meiner ehemaligen Hochschule ist recht kompakt)
- abends mit ÖPNV und Auto zurück
- im Stall schauen, ob das Pflegemädchen etwas fürs Pferd braucht, ggf. den Hufschmied bestellen oder einen Sack Futter mit dem Auto herankarren
- zuhause an den Schreibtisch
- vom Schreibtisch über Küche und Bad ins Bett

Wohnung - Auto - ÖPNV - Hörsaal - ÖPNV - Auto - Wohnung das war mein Hamsterrad, in dem ich hektisch rotierte, ohne mich selbst körperlich viel zu bewegen. Dazu täglich 4000 bis 5000 kCal - überwiegend in Form von Fast Food - und ständig Hunger auf mehr.

Obwohl ich mich kaum noch satt aß, nahm ich unentwegt zu.

Die Gewichtszunahme finde ich im Rückblick aber nicht so erschreckend, wie die psychischen Veränderungen: Lethargie, Antriebslosigkeit, depressive Verstimmungen, Kopfschmerzen, Heißhungerattacken, die immer öfter in Essanfälle mündeten, im Wechsel mit rigiden Hungerkuren. Damals schockte mich die Gewichtszunahme am meisten. Alle - auch mein Hausarzt - rieten mir: "Mach doch 'mal 'ne Diät! Das würde Dir gut tun." und sie waren davon ebenso überzeugt, wie ich selbst. Keiner warnte damals (in den 80er Jahren) vor dem Jo-Jo-Effekt oder verwies auf die Ergebnisse des Minnesota-Forschungsprojekts, das die schädlichen Auswirkungen von Hungerkuren auf Körper, Geist und Seele zuvor kerngesunder Erwachsener deutlich beschrieb. "Heilfasten" im Dauerstress zwischen Uni, Teilzeitjob und einer stressigen Beziehung ist nicht wirklich heilsam. Von Diät zu Diät schaukelte ich mich hoch - jede Hungerkur endete unausweichlich bei McD, in der Frittenbude oder mit einem nächtlichen Anruf beim Pizzabringdienst. Ich probierte jede nur denkbare Hungerkur aus, mit durchschlagendem Erfolg: Ich wurde immer dicker!

Irgendwann Anfang der 90er Jahre hörte ich erstmals den Begriff "Essstörung". Ich las mich in die Problematik ein und mir wurde vermittelt: Menschen, die so verantwortungslos mit dem Essen und ihrem Körper umgehen, wie ich es tue, haben einen schweren, behandlungsbedürftigen, psychischen Schaden, der sie dazu bringt, so zu denken und zu handeln. Von dieser erschreckenden, schockierenden, angstmachenden Erkenntnis bis zum Beginn einer ernsthaft angestrebten Psychotherapie samt Aufenthalt in einer Fachklinik für Psychosomatik vergingen mehr als zehn Jahre. Anfang 2002 begann ich mit der Suche nach einer ambulanten Psychotherapie, Ende 2002 beantragte ich die Aufnahme in eine psychosomatische Klinik. Gegen meine Depressionen nahm ich mittlerweile regelmäßig Medikamente und meine Gewicht war unaufhaltsam (so erlebte ich es) weiter angestiegen. Am schwersten zu ertragen war die Hoffnungslosigkeit, als ich aus der Klinik zurück kehrte, meine Therapie engagiert und aufrichtig nach den oben beschriebenen Vorstellungen fortsetzte und mein Gewicht weiter anstieg.

Der Therapie verdanke ich die Einsicht: In meiner Kindheit lief nicht alles glatt und meine Art, in Beziehungen zu leben ist auch entwicklungsfähig. Ich arbeitet hart daran und versuchte gleichzeitig mein Essenverhalten vom krankmachenden Diätwahn zu befreien. Meien Beziehungen zu meinen Eltern, meinem Ehemann, meine Kind, meiner Schwester und meinen Freunden verbesserten sich. King Chaos wurde massiv zurückgedrängt. Ich lernte, mir erfreuliche Hobbies und Begegnungen mit Menschen ([image] zurück zu Siebenschläfer) zu gönnen. Meine Selbstachtung und mein Selbstvertrauen stiegen - mein Gewicht auch. Irgendwas lief schief - aber gründlich. Meine Therapeutin und ich kamen nicht drauf. Ich trieb seit über einem Jahr regelmäßig Sport und suchte mir eine neue Arbeitsstelle - der Kampf gegen die Antriebsschwäche, die Depression und den überwältigenden Fressdruck blieb mühsam.

Morgan Spurlocks spannender Selbstversuch führte mir drastisch vor Augen, was ich mir selbst zu Beginn meines Studiums angetan hatte.

Liebe Fatima, ich beneide Dich um Dein Unverständnis und beglückwünsche Dich zu Deiner Mutter.

Danke für Eure Interesse

[image] Schlumpfine, deren Modem endgültig dabei ist kaputt zu gehen und die deshalb nicht weiß, wann sie hier wieder 'reingucken und antworten kann


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